Ist simpel das neue Smart?
Nicht nur immer mehr Vorschriften verteuern den Wohnungsbau. Auch der Einsatz von immer mehr Technik treibt die Kosten. Löst der Verzicht darauf das Problem? Die GWG Ingolstadt macht mit ihrem „Haus (fast) ohne Heizung“ die Probe aufs Exempel.
Über 3.900 DIN-Normen und unzählige Vorschriften regeln das Bauen in Deutschland mittlerweile, obwohl seit Jahren an der Vereinfachung von Standards und dem Abbau von bürokratischen Hürden gearbeitet wird, damit der Wohnungsbau günstiger und schneller wird. Die Bemühungen kommen jedoch kaum voran. Daran dürfte auch der Bau-Turbo von Bundesbauministerin Verena Hubertz (SPD) wenig ändern. Denn wo was wie konkret gebaut werden darf, entscheidet sich in den Amtsstuben vor Ort.
Obendrein verschlingt die Haustechnik ein immer größeres Budget. Ließ sich ein Quadratmeter Wohnfläche in einer deutschen Großstadt im 1. Quartal 2020 in den Kostengruppen 300 und 400 der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen (ARGE//eV) zufolge für durchschnittlich rund 2.440 Euro herstellen, mussten Bauherren dafür im 1. Quartal 2023 über 3.475 Euro in die Hand nehmen - das entspricht einem Anstieg von über 42 Prozent innerhalb von drei Jahren.
Inzwischen ist bauen noch teurer geworden. Im Klartext: Für das gleiche Geld gibt es immer weniger Wohnraum. Mit dramatischen Folgen. Das Pestel-Institut errechnete in einer Studie im Auftrag des Bündnisses Soziales Wohnen auf Basis des Zensus 2022, dass bundesweit rund 550.000 Wohnungen fehlen und bis 2030 mindestens zwei Millionen Sozialwohnungen gebaut werden müssen. Eine scheinbar vertrackte Situation ohne Aussicht auf schnell wirksame Lösungen.
Weniger ist mehr
Eine Inspiration kann das Neubauprojekt „Haus (fast) ohne Heizung“ sein, das die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Ingolstadt GmbH (GWG Ingolstadt) derzeit gemeinsam mit nbundm* Architekten erstellt und eines von 19 Pilotprojekten zum „Gebäudetyp E“ ist, die aktuell in fast allen Regierungsbezirken Bayerns durchgeführt werden. Den Weg dafür ebnete eine Änderung in Artikel 63 der bayerischen Bauordnung (BayBO), der zufolge bautechnische Abweichungen zulässig sind.
Die beiden Partner erstellen eine zweigeschossige Wohnanlage mit 15 geförderten Mieteinheiten, die weder Keller noch Tiefgarage hat und über keine Heizung im klassischen Sinn verfügt. Die Haustechnik beschränkt sich auf das Nötigste und die Ausstattung ist überwiegend minimalistisch. So verfügen die Gäste-WCs nur über einen Kaltwasseranschluss, die Anzahl der Schalter und Steckdosen ist reduziert und die Betonwände und -decken in den Wohnungen und Treppenhäusern bleiben unverputzt. Stattdessen werden Abstellräume in den Freianlagen ausgewiesen und Pkw-Stellplätze oberirdisch angeordnet und um die Hälfte reduziert sowie Car-Sharing und Lastenräder angeboten.
„Die dadurch gesparten Kosten sind nicht gering“, sagt Architekt Chris Neuburger, der wie das kommunale Wohnungsunternehmen erstmals ein derartiges Objekt realisiert. An kalten Tagen sorgt ein dünnes, elektrisch leitfähiges Heizpapier im Bodenaufbau in jedem Raum für angenehme Wärme zwischen 22 und 26 Grad. Die Warmwasserbereitung erfolgt dezentral über wartungsarme Elektroboiler in den Bädern. Strom liefert eine PV-Anlage auf dem hauseigenen Dach, dessen Flächen extensiv begrünt werden, wodurch eine gleichmäßige Temperierung von 30 bis 35 Grad Celsius entsteht, die den Wirkungsgrad der PV-Module zusätzlich steigert.
Baukunst statt Hightech
Der Clou des experimentellen Wohngebäudes, für dessen Bau rund 5,5 Mio. Euro veranschlagt sind und welches das erste seiner Art in Deutschland ist, ist die Energieversorgung. Sie basiert auf dem „Konzept 2226“, das dem herrschenden Diktum, Energieeffizienz wäre nur mit komplexer Haustechnik möglich, die elementaren Mittel der Baukunst entgegensetzt. Dazu gehören unter anderem massive Wände und Decken, die als Dämm- und Speichermasse dienen und ein austariertes Zusammenspiel von Fassaden- und Fensterfläche, von Proportionen, Materialien und Licht.
Der Baukörper ist durch zwei Knicke gebrochen, die die Fassade optisch verkürzen. Seine vieleckige Geometrie sorgt in allen Räumen für Sonnenlichteinfall, verbesserte Blickrichtungen, gut nutzbare Außenräume und spannungsreiche Formen, so dass unterschiedliche Wohnungen realisierbar sind, die an mindestens zwei Fassaden stoßen. Dies erlaubt vielfältige Wohnkonzepte.
Im Fokus der GWG Ingolstadt stehen große durchgesteckte vier- bis fünf Zimmer-Wohnungen für Familien, die bei Bedarf unkompliziert durch eine 2-Zimmer-Wohnung erweitert werden können, um etwa die Großelterngeneration zu integrieren. Die massive Gebäudehülle aus Thermoziegeln mit vorgesetzter Holzverschalung funktioniert zusammen mit massiven Innenwänden und Geschossdecken als Wärmespeicher, der sich aus Sonneneinstrahlung nebst Abwärme von Bewohnenden, Beleuchtung und elektrischen Geräten wie Herd, Kühlschrank, Kaffeemaschine, Fernseher und Computer speist. Die Lüftung gelingt per sensorgestützter Temperatur- und CO₂-Steuerung der Fensterflügel. Dies soll eine Grundtemperatur von ungefähr 22°C gewähren.
Offene Planungskultur ist entscheidend
So kommt ein „2226 Gebäude“ ohne Heizung, Lüftung und Kühlung aus, was zugleich die Bau-, Betriebs- und Lebenszykluskosten optimiert. Denn durch den Verzicht auf die gängige Haustechnik entfällt der Aufwand für deren Planung, Beschaffung und Wartung. „Entscheidend für diese Kunst des Weglassens ist eine offene Planungskultur“, so der Architekt, die bei der GWG Ingolstadt aufgrund langjähriger Erfahrung mit dem Hinterfragen von Standards erfreulicherweise vorhanden sei.
Das Wohnungsunternehmen, das mit rund 7.700 Mieteinheiten der größte Wohnraumversorger in der Region ist, realisiert immer wieder innovative Neubauten. Im Jahr 2023 entstanden im Rahmen des experimentellen Wohnungsbauprogramms „effizient bauen, leistbar wohnen“ 161 geförderte Mietwohnungen, bei denen es um das Erreichen größtmöglicher Flächeneffizienz unter dem Motto „Bauen in die Höhe“ ging.
Überdies wurde unlängst der behutsame Umgang mit dem 2.000 Quadratmeter umfassenden historischen Rosengarten in der Altstadt von Ingolstadt im Zuge des Neubaus von 58 geförderten Mietwohnungen und einer Kindertagesstätte mit dem „Preis für Baukultur“ ausgezeichnet, vergeben von der Europäischen Metropolregion München in Kooperation mit der Bayerischen Architektenkammer, der Landeshauptstadt München, dem Bayerischen Städtetag sowie dem Bayerischen Gemeindetag und der Bundesstiftung Baukultur. „Außerdem beweist das Projekt, dass trotz Reduktion, Weglassung und Kosteneinsparung schön gestaltete und gut gebaute Gebäude geplant und umgesetzt werden können.“
Vision für die 2.000 Watt-Gesellschaft
Das „Konzept 2226“ entwickelte das international bekannte Architekturbüro Baumschlager Eberle Ende der 2000er Jahre. Erstmals kam es 2013 beim Neubau der eigenen Firmenzentrale im österreichischen Lustenau zur Anwendung. Das Bürogebäude, das mehrfach prämiert wurde (unter anderem erhielt es 2014 den German Design Award in Gold und wurde 2015 mit dem renommierten Umweltpreis der gemeinnützigen Energy Globe Foundation bedacht), gilt als Leuchtturm für nachhaltiges Bauen.
Im Wohnungsbau wurde das Prinzip erstmals 2020 beim Bau eines Mehrfamilienhauses in Dornbirn nahe Lustenau umgesetzt. Acht Mietparteien wohnen hier auf je
65 Quadratmetern, intelligent verteilt auf drei Zimmer, und kommen ohne Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlage aus. Ihr Heizwärmebedarf liegt bei sparsamen rund 34 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr, was der Energieausweisklasse B entspricht. Hintergrund des Konzepts ist die „2000-Watt-Gesellschaft“, eine von der ETH Zürich in den 1980iger Jahren ersonnene Vision, wonach der Energiebedarf pro Person in der Schweiz (und bestenfalls global) bis 2050 einer durchschnittlichen Leistung von jährlich 2.000 Watt entsprechen soll, also der Menge an Energie, die die Schweizerinnen und Schweizer in den 1950iger Jahren benötigten.
Das Ziel ist nicht nur für die Alpenrepublik ambitioniert. Auch hierzulande ist die Gesellschaft weit davon entfernt, es zu erreichen, bei einem Pro-Kopf-Stromverbrauch, der nach Zahlen des Portals Statista, 2023 bei etwa 6.100 Kilowattstunden lag. Ein bewussterer Umgang mit Stromenergie, auch wenn sie in der Zukunft CO₂-frei erzeugt werden sollte, ist also dringend notwendig. Im Gebäudebereich kann der Low Tech-Ansatz des „Konzept 2226“ dafür ein probates Mittel sein.
Abhängigkeiten von Rohstoffen reduzieren
Daneben adressiert das Konzept ein weiteres Handlungsfeld für die Immobilien- und Bauwirtschaft: die Reduktion der enormen Ressourcenmengen, die für das Bauen allgemein und zur Herstellung von Haus- und Gebäudetechnik im Besonderen benötigt werden und das nicht nur aus ökologischer Notwendigkeit, sondern auch aus strategischen Überlegungen und Kostengründen. Denn Heizungs-, Kühlungs- und Lüftungsanlagen, Wärmepumpen und Smart Building-Systeme bestehen aus einer Vielzahl von Rohstoffen, die für ihre Komponenten notwendig sind. Dazu zählen Metalle wie Stahl, Kupfer und Aluminium, die teilweise zwar recycelt werden, gleichwohl aber erheblichen Preisschwankungen unterliegen, die letztlich nur eine Richtung kennen: nach oben.
Im vergangenen Jahr kletterten dem IW Köln zufolge die Preise für Aluminium um 21 Prozent und für Kupfer um 10 Prozent. Darüber hinaus erfordern zahlreiche Anwendungen in der Gebäudetechnik, gerade im Hinblick auf Energieeffizienz und erneuerbare Energien, seltene Erden. Auch ihre Preise sind stark volatil. Überdies stammen sie aus politisch kritischen Regionen, allen voran China, und können als wirtschaftspolitisches Druckmittel dienen. In Handelsgesprächen mit den USA nutzt China seine Position als weltweit größter Lieferant von seltenen Erden bereits, um Vorteile auszuhandeln.
In Deutschland kamen in 2024 laut Statistischem Bundesamt 65,5 Prozent der importierten Menge an seltenen Erden aus China. Zahlreiche Experten, etwa vom IW Köln und aus Wirtschaftsverbänden wie dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, mahnen die jeweilige Bundesregierung seit Jahren, eine nachhaltige Rohstoffstrategie zu entwickeln. Bisher lässt diese indes auf sich warten. Je weniger das Bauen und die in Gebäuden verbaute Technik von primären und kritischen Rohstoffen abhängig ist, indem auf ihren Einsatz verzichtet wird und Alternativen genutzt werden, wie beim „Haus (fast) ohne Heizung“, umso geringer ist das Risiko für Bauherren, von Preissprüngen und Lieferengpässen negativ überrascht zu werden.
Bauen geht einfacher
Die Mieterinnen und Mieter, die nach der geplanten Fertigstellung Ende 2025, in die Wohnungen für 6 bis 8 Euro pro Quadratmeter einziehen, müssen steigende Energiekosten und CO₂-Abgaben wenig kümmern. Bereits bei der Vermietung klärt die GWG Ingolstadt sie über den technischen Minimaleinsatz zum Heizen auf. Bleibt abzuwarten, welche weiteren Wohnungsunternehmen sich von dem Beispiel inspirieren lassen, um einfacher und günstiger zu bauen, ohne auf Komfort und Qualität zu verzichten.
Bis zu 25 Prozent der Baukosten könnten dadurch eingespart werden, heißt es in der Studie „Wohnungsbau in Deutschland 2025 – Qua vadis?“ der ARGE. Vorstöße dazu gibt es, zum Beispiel in Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Das in Nordrhein-Westfalen gegründete Netzwerk „Neues Bauen“ beabsichtigt, einen standardisierten, skalierbaren Gebäudetyp E zu entwickeln. Die Frage ist also nicht, ob simpel das neue Smart ist, sondern wann sich der Trend in der breiten Wohnungswirtschaft durchsetzt.