Neue Wohnkonzepte für den demografischen Wandel

Auch wenn die Wohnungsbaugesellschaften in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen haben, altersge­­recht zu bauen, ist wegen des hohen Altbestandes nur ein Bruchteil des Wohnungen so gestaltet, dass sie unabhängig vom Alter gut genutzt werden können.

Vieles spricht dafür, dass die demografischen Entwicklungen gravierende Veränderungen in unserer Gesellschaft zur Folge haben werden, die auch die Anforderungen an das Wohnen beeinflussen: Wir erreichen ein höheres Lebensalter, der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung steigt, die Zahl der Alleinlebenden und der Haushalte ohne Kinder nimmt zu, das familiäre Potenzial zur Unterstützung Angehöriger wird schwächer, die Lebensstile werden auch im Alter vielfältiger. Diese Veränderungen treffen auf einen Wohnungsmarkt, der noch zu wenig darauf eingestellt ist – zu anonyme Wohnsituationen, zu starre Grundrisse, zu ungünstige Raumzuschnitte, zu schmale Türen, zu viele Treppen und Stolperfallen. In den eigenen vier Wänden bis ins hohe Alter selbstbestimmt wohnen zu können, ist der Wunsch der Senioren von heute und wird der Anspruch der Menschen von morgen sein. Auch wenn vor allem die Wohnungsbaugesellschaften in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen haben, altersgerecht zu bauen, ist wegen des hohen Altbestandes nur ein Bruchteil des Wohnungen so gestaltet, dass sie unabhängig vom Alter gut genutzt werden können – eine große Lücke zwischen Angebot und weiter zunehmendem Bedarf also. ↓

Experimenteller Wohnungsbau

Bezahlbare Wohnmodelle zu testen, die Lösungen für bislang im Wohnungsbau zu wenig berücksichtigte Entwicklungen bieten, ist Aufgabe des in der Obersten Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern angesiedelten Experimentellen Wohnungsbaus – eine Art Zukunftswerkstatt der Wohnraumförderung. Gemeinsam mit der Wohnungswirtschaft werden ambitionierte Wohnbauprojekte realisiert, anschließend evaluiert und der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Modellvorhaben stehen zwar stets unter einem bestimmten Thema, dennoch sind sie Mehrzielprojekte, die gesellschaftliche, soziale, ökologische, ökonomische und architektonische Zielsetzungen gleichermaßen verfolgen. Mit diesem Anspruch durchbrechen sie oftmals die gewöhnliche Erwartung an den öffentlich geförderten Mietwohnungsbau. Drei in den letzten Jahren durchgeführte Modellvorhaben mit insgesamt 26 Einzelprojekten widmen sich unter verschiedenen Blickwinkeln neuen Wohnkonzepten für den demografischen Wandel. Dabei ging es nicht um Seniorenwohnanlagen, sondern um Gebäude, in denen man in jedem Lebensalter gut wohnen kann.

 

Gemeinsam bauen und leben

Noch werden die meisten der unterstützungs- oder pflegebedürftigen älteren Menschen von Angehörigen umsorgt. Doch der familiäre Faktor wird schwächer. Durch den oft berufsbedingten Wegzug der Kinder und durch die sinkende Geburtenrate können sich immer weniger Kinder um die alten Eltern kümmern. Deshalb suchen viele ältere Menschen nach einem Wohnen in einer sozial engagierten Nachbarschaft als Gegenmodell zum isolierten Leben in einem anonymen Mietshaus. Die Bewohner solcher gemeinschaftsorientierter Wohnanlagen wollen ihren Alltag in einer lebendigen Hausgemeinschaft verbringen und sich in definierten Grenzen unterstützen. Sie sind also gerade für ältere Menschen eine Option, um die Lebensqualität durch eine Wahlverwandtschaft zu erhöhen, dem Alleinsein aktiv zu begegnen und im Bedarfsfall auf Hilfe von Nebenan zählen zu können. Das hat den bayerischen Experimentellen Wohnungs­bau veranlasst, Wohn­­konzepte zu unterstützen, die privates Wohnen mit gemeinschaftlichem Leben kombinieren – initiiert, organisiert und umgesetzt von den Bewohnern selbst oder in Kooperation mit einem Wohnungsunternehmen. Im Modellvorhaben „Gemeinsam bauen und leben“ entstanden von 2002 bis 2008 an fünf Standorten Hausgemeinschaften mit 10 bis 90 Wohneinheiten, die den Gemeinschaftsgedanken sehr unterschiedlich leben: bei einigen Projekten ging es um ein nachbarschaftliches Netz ohne allzu viele verpflichtende Beiträge, bei anderen entstand eine ausgesprochen aktive Nachbarschaftshilfe. Konzeptionell wichtig für alle Projekte sind Gemeinschaftsräume und Begegnungsflächen in Haus und Garten. Vorteile haben solche Wohnprojekte auch für die Wohnungsbaugesellschaften: Durch die hohe Identifikation der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrer Wohnanlage ist die Fluktuation sehr gering. Außerdem liegen die Instandhaltungskosten regelmäßig unter den Aufwendungen im herkömmlichen Wohnungsbau, weil Mieter ihr Wohnhaus gleichsam als Eigentum betrachten und sorgsam damit umgehen.


 

Lebendige Wohnquartiere für Jung und Alt

Die Umsetzung von Wohnkonzepten, die unter demografischen Gesichtspunkten auch in den nächsten Jahrzehnten bestehen können, ist in Bestandsquartieren mit besonderen Herausforderungen verbunden. Seit einigen Jahren hat dieses Thema in Deutschland besondere Brisanz, weil die großen Wohnungsbestände der Nachkriegszeit in die Jah­­re kommen – ebenso wie viele ihrer Bewohner, die in ihren Wohnungen alt geworden sind, aber das vertraute Viertel nicht verlassen wollen und sich trotz vieler Beschwernisse in den voller Barrieren steckenden Wohnungen mit ihrer Wohnsituation arrangiert haben. Durch eine einseitiger werdende Bewohnerstruktur gerät jedoch die soziale Ausgewogenheit solcher Quartiere aus der Balance. Ziel des in den Jahren 2003 bis 2008 durchgeführte Modellvorhaben „Lebendige Wohnquartiere für Jung und Alt“ waren Veränderungen im Gesamtgefüge überalterter Siedlungen, sodass sich diese zu einem attraktiven Wohnstandort für Jung und Alt entwickeln und gleichzeitig alteingesessenen Senioren eine Perspektive für einen langen Lebensabend im angestammten Quartier bieten. Ein breiterer Wohnungsmix sollte das vorhandene Einerlei kleiner Wohnungen ablösen. Barrieren mussten abgebaut oder zumindest reduziert werden. Für die Nachbarschaft waren Treffpunkte gewünscht. Darüber hinaus sollten störende Parkplätze verlagert werden und Freiflächenangebote für alle Generationen entstehen. Das Ziel der strukturellen Erneuerung wurde bei den meisten der insgesamt acht Projekte durch einen integrierten Ansatz aus baulichen, freiräumlichen und sozialen Maßnahmen erreicht. Bei vielen Projekten entstanden neue Familienwohnungen nicht nur durch Umbau, sondern durch bauliche Ergänzungen. Zwei Projekte nehmen eine Sonderstellung innerhalb des Modellvorhabens ein, weil sie ausprobieren, inwieweit be­­reits eine hochwertige Auf­­wertung des Wohnumfelds zu At­­traktivitätssteigerung führen kann. An den Modellprojekten wird deutlich, welche grundsätzlichen Potenziale bestehende Siedlungen und bestimmte Ge­­bäudetypologien bieten, um im Zuge einer Modernisierung ein differenzierteres Wohnungsangebot zu schaffen und altersgerechtes Wohnen bzw. eine größere Barrierefreiheit zu erreichen. Auch die bei zwei Pilotprojekten angewandten nicht alltäglichen Strategien für die Durchführung der Modernisierungen im be­­wohnten Zustand sind nachahmenswert.

 

Wohnen in allen Lebensphasen

Bei einem dritten Modellvorhaben ging es um die Kombination von Wohnen und unterstützenden Diensten, die gebrechlich werdenden Senioren einen Verbleib in der häuslichen Umgebung ermöglichen. Die heutigen Alten sind im Durchschnitt zwar gesünder und vitaler als noch die Generationen zuvor, dennoch werden auch sie irgendwann in einer voller Stolperfallen und Barrieren steckender Wohnanlage alleine auf sich gestellt nicht mehr zurechtkommen. 2004 definierte der Experimentelle Wohnungsbau drei Handlungsfelder für Wohnqualität bis ins hohe Alter: eine möglichst umfassende Barrierefreiheit im Haus und im Lebensumfeld, die Einbindung in eine lebendige generationengemischte Nach­­barschaft sowie die Sicherheit, im Be­­darfsfall auf Unterstützung und Pflege zu­­rückgreifen zu können. Diese Aspekte flossen in die Ziele des im Folgejahr gestarteten Mo­­dellvorhabens „Wohnen in allen Lebensphasen“ ein. Grundvorgabe war die Vermeidung von baulichen Hindernissen unter Berücksichtigung der Zwänge des Bestands. Eine wesentliche Neuerung gegenüber herkömmlichen, barrierefreien Wohnanlagen war das geforderte Konzept für nachbarschaftliche oder ehrenamtliche Hilfestellung, ergänzt durch eine Unterstützung durch professionelle Versorgungs- oder Pflegedienste im Bedarfsfall. Unter den 13 Pilotprojekten finden sich neben herkömmlichen Wohnungen auch zwei Wohngemeinschaften. Bemerkenswert ist die große Palette an begleitenden Maßnahmen, Bewohnerengagement, Gemeinschaftsangeboten und Kooperationen mit sozialen Trägern, aus denen sich Strategien für andere Projekte ableiten lassen.

 

Veröffentlichung der Modellvorhaben

Die Modellvorhaben „Gemeinsam bauen und leben“, „Lebendige Wohnquartier für Jung und Alt“ und „Wohnen in allen Lebensphasen“ zeigen aus unterschiedlichen Blickwinkeln nicht-alltägliche Lösungen und Konzepte für das Wohnen im Alter, die weit über die einzelne Wohnung hinausgehen. Die realisierten Projekte sind 2011 als Buch im Rahmen der Wohnmodelle Bayern-Reihe im Callwey-Verlag erschienen.


Die Umsetzung von Wohnkonzepten, die unter ­demografischen Gesichtspunkten bestehen können,
ist in Bestandsquartieren mit besonderen Heraus­forderungen verbunden.

Die Anzahl der begleitenden Maßnahmen ist bemerkenswert: Bewohnerengagement, Gemeinschaftsangebote und Kooperationen mit sozialen Trägern, aus denen sich Strategien für andere Projekte ableiten lassen.

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