Wohnen in einer fürsorgenden Gemeinschaft

Den Deutschen Architekturpreis 2025 hat das Architekturbüro Sauerbruch Hutton für das Wohnquartier „Franklin Village“ in Mannheim erhalten. Dieses Wohnquartier zeigt, was passiert, wenn Bauherren sich als Kümmerer verstehen und Architekten Neues wagen: Aus Mietern kann dann eine fürsorgende Gemeinschaft erwachsen.

„H-O-M-E“ - die vier bunten Buchstabenhochhäuser lugen wie hineingeworfenes Riesenspielzeug zwischen der schlichten Bebauung heraus. Man kann das als ironischen Wink verstehen, als fröhliche Willkommensbotschaft, oder einfach nur als einen Akt der Verspieltheit, wie man ihn aus dem niederländischen Architekturbüro MVRDV kennt. Einen sichtbaren Neustart im ehemaligen Benjamin Franklin Village in Mannheim symbolisieren diese farbenfrohen Hochhäuser auf jeden Fall, ebenso wie sie - vielleicht unbeabsichtigt - eine der zentralen gesellschaftlichen Fragen unserer Gegenwart aufwerfen: Wie wollen wir wohnen und wie wollen wir zusammenleben? Wann fühlen wir uns wirklich zuhause? Und wen beziehen wir bei dieser Frage mit ein?

„Da stehen wir tatsächlich vor großen Herausforderungen als Gesellschaft“, sagt Nicolas Albrecht, während er seinen Wagen durch den Mannheimer Stadtteil Käfertal steuert. Überalterung, Pflege, Vereinzelung und Einsamkeit - nicht nur familiäre Bande sind loser als früher, auch der gesamte soziale Zusammenhalt bröckelt, und Nicolas Albrecht ist davon überzeugt, dass das künftig nur intelligent gestaltete Wohnquartiere und Nachbarschaften auffangen können. Der holländischen Geste mit den Buchstaben kann er allerdings nicht so viel abgewinnen, er peilt ein ganz anderes Ziel an. „Ein Projekt, bei dem alle Fäden meines bisherigen Lebens zusammenlaufen.“

Nicolas Albrecht ist Initiator und Projektenentwickler des Wohnquartiers Franklin Village. Bereits während seines Theologie-Studiums war er maßgeblich an der Konzeption und Weiterentwicklung von diakonischen Hausgemeinschaften in Heidelberg beteiligt, in denen Menschen mit Betreuungsbedarf in kleinen familiären Gruppen leben. Vor einigen Jahren konnte er zusammen mit seinem Partner Dirk Walliser die Stadt Mannheim überzeugen, ein Wohnprojekt der besonderen Art zu realisieren. Finanziert wurde es durch die Software AG Stiftung, entworfen und realisiert vom Architekturbüro Sauerbruch Hutton.

Das Grundstück liegt mitten im ehemaligen Benjamin Franklin Village, das jahrzehntelang das „Home“ von 10.000 US-amerikanischen Soldaten mit ihren Familien war und seit 2012 Schritt für Schritt umgewandelt wird. Von der Straße führt ein Fußweg einer auffälligen Staudenbepflanzung vorbei mitten hinein auf einen begrünten Hof, der fast Gartencharakter hat - man kann spielen, die Blumen genießen und sogar Beeren ernten. Begrenzt wird dieser Innenbereich von dreigeschossigen Wohntrakten, die in Holztafelbauweise vorproduziert wurden. Die gräulich schimmernde Holzfassade wird durch großformatige Fenster und Glastüren leise rhythmisiert.

In der zweiten Reihe wurde eine Wohnzeile aus dem Bestand aufgestockt, etwas versetzt steht ein neues Gemeinschaftshaus mit Bibliothek, Coworking-Space und einem Gemeinschaftsraum, den die Krabbel- genauso wie die Yoga-Gruppe nutzt. Von der ebenfalls gemeinschaftlich genutzten Dachterrasse schaut man auf unterschiedliche Wege- und Platzsituationen, die wie viele kleine Details am Bau die Aufenthaltsqualität merklich steigern - die lichten Terrassen zum Hof hin, Rankgitter für die individuelle Begrünung und natürlich die niedrigen und breiten Fensterbrüstungen, in denen man sich innen und außen lümmeln kann.

Die Bauherren haben auf eine Durchmischung der Mieterschaft geachtet und sie durch vergleichsweise günstige Mieten auch ermöglicht. Persönliche Freiheiten in der Gestaltung der Außenbereiche, manchmal auch Irrläufer, sind zulässig und erwünscht. „Man braucht eine architektonische Kraft, die all die anderen Dinge ganz natürlich sein lässt“, sagt die Architektin Vera Hartmann. Dinge wie etwa das ausufernde Hasengehege. Doch bleiben wir zunächst bei der architektonischen Hardware: Die Grundrisse der 90 Mietwohnungen sind vielfältig, es gibt 2- bis 4-Zimmerwohnungen, einen Maisonettetyp und Clusterwohnungen, in denen Menschen mit Betreuungsbedarf als Wohngemeinschaft zusammenleben können. Ein Gemeinschaftsgebäude bietet Co-Working, Platz für die Yoga- oder Krabbelgruppe, die Party auf der Dachterrasse oder das gemütliche Essen mit Freunden. Das Herz der Hausgemeinschaft aber ist die grüne Mitte mit Bäumen, Staudenbepflanzung und Spielfläche.

Immer wieder eine Herausforderung: Laubengänge

Von dort werden die Wohnungen über Laubengänge und vier exponierte Stahltreppen in den Ecken erschlossen. Die Treppen mussten ausgestellt werden, um die Privats-phäre der Eckwohnungen zu sichern, aber sie sind auch, so quer in den Hof gestellt, ein Hingucker. Und hingucken ist erwünscht. Sauberbruch Hutton sind bekannt für ihren Umgang mit Farbe - auch hier haben sie sich ein ungewöhnliches Konzept ausgedacht: Die Decken der Laubengänge und Außentrennwände zwischen den Wohnungen sind in Anlehnung an Bruno Taut in gedämpften Grundfarben gestrichen - das schafft angenehme Reflektionen und Orientierung - immerhin gibt es insgesamt 90 Wohneinheiten.

Den Laubengang teilt man sich nur mit zwei Nachbarn, er weitet sich neben den Wohnungstüren zu privaten Terrassen auf, über denen wiederum ein Deckenausschnitt Licht von oben bringt. „Nachbarschaft ist wie ein osmotischer Prozess“, sagt Nicolas Albrecht. Es geht um das feine Austarieren von Nähe und Distanz, von Privatheit und Öffentlichkeit. Das bunte Treiben in der Anlage kann man so von jedem Blickwinkel beobachten, ein freundlicher Gruß oder ein kurzer Plausch sind ebenso möglich wie der Rückzug. Und daraus entsteht schnell mehr.

Gerade quert eine Bewohnerin im Rollstuhl mit ihrer Betreuerin die grüne Mitte. Die zentral gelegene Clusterwohnung teilt sie sich mit einer autistischen Mitbewohnerin sowie einer älteren Frau aus der Ukraine. Alle Schlafzimmer haben ein eigenes Bad, die drei halten sich viel im Gemeinschaftsbereich mit der Küche auf - zusammen mit der Pflegekraft, die übrigens auch gelegentlich Ansprechpartnerin ist für die Probleme von anderen im Haus.

Ein Hasenstall als Treffpunkt

Von der Frau im Rollstuhl erzählen alle die Geschichten, dass sie die erste ist, die den Weihnachtsbaum aufstellt, woraufhin sich die Nachbarn dort zum Glühwein versammeln. Sie hat auch das erste Nachbarschaftsfest organisiert. Und zu ihr gehören eben auch die Hasen vor ihrer Wohnung. Kaum vorstellbar, dass das Gehege in einer konventionellen Mietergemeinschaft seinen Platz draußen gefunden hätte. Es sind diese einfachen Formen von Begegnung und Miteinander, die von Anfang an mit eingeplant wurden, auch architektonisch.

Etwa die Hälfte der 250 Bewohner*innen engagieren sich in der Nachbarschaft von Franklin Village. Manche werden wieder abspringen, andere neu dazukommen. Das Projekt zeigt, wieviel kluge Architektur ermöglichen kann, aber wieviel mehr man erreicht, wenn auch der Bauherr das Zusammenleben mitdenkt. Nicolas Albrecht und sein Projektpartner Dirk Walliser haben sich die künftigen Mieterinnen und Mieter beim Besichtigungstermin genau angeschaut. Und sie haben sich auch bewusst gegen den Verkauf der Anlage als Wohneigentum entschieden, obwohl das für sie lukrativer gewesen wäre. „Eigentümer suchen ihren eigenen Vorteil und verlieren die Gemeinschaft aus dem Auge. Aber wir brauchen Orte, an denen alle etwas über das Wohnen hinaus vom Leben verstehen und lernen“, glaubt Nicolas Albrecht. Klar sind bei diesem Projekt alle Beteiligten an ihre Grenzen gestoßen - auch finanziell. Am Ende aber ist hier ein HOME entstanden, das in die Zukunft weist.

Autorin: Marietta Schwarz, Journalistin beim Deutschlandfunk

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