Barrieresensibilität in der Stadtentwicklung

Barrierefreiheit ist ein gängiger Begriff in der Stadtentwicklung. Doch was steckt eigentlich dahinter und was bedeutet Barrieresensibilität in diesem Kontext?

Bei der Nutzung und Mitgestaltung von Stadt bestehen unzählige Barrieren. Jedoch betreffen diese nicht alle Menschen in gleichem Ausmaß und sind daher nicht immer für alle sichtbar: defekte Fahrstühle in U-Bahnhöfen, fehlende öffentliche Toiletten, mangelhafte Straßenbeleuchtung, einsprachig verfasste Amtsformulare, eine an digitale Geräte und Internetzugang geknüpfte Wohnungssuche oder fehlende Kinderbetreuung bei Beteiligungsverfahren. Diese und viele weitere Barrieren führen dazu, dass nur ein Teil der Stadtgesellschaft die Stadt in vollem Umfang nutzen und mitgestalten kann.

Der Begriff Barrieresensibilität beschreibt das Bemühen, Barrieren und Zugangshürden auf ein Minimum zu reduzieren und vorhandene Barrieren transparent zu kommunizieren. Im Gegensatz zu Barrierefreiheit wird dabei nicht davon ausgegangen, dass es eine Stadt ohne Barrieren gibt bzw. geben kann. Barrieresensibilität geht weit über das Einhalten von rechtlichen Vorgaben oder baulichen Maßnahmen hinaus. Der Zusatz “sensibel” weist darauf hin, dass eine ständige Aufmerksamkeit und Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen verschiedener Menschen gefordert ist. Die Anerkennung, dass Barrieren bestehen, die vielen Menschen Zugang zu Räumen und gesellschaftlicher Teilhabe erschweren, ist zentral. Barrieresensibilität umfasst die Sensibilisierung für diese Hürden, das Anerkennen und Abbauen dieser.

Mehrwert für Viele

Der Abbau von Barrieren ist oft ein Mehrwert für viele Menschen. Ein Beispiel hierfür sind Rampen an Eingängen von öffentlichen Gebäuden. Diese erleichtern den Zugang nicht nur für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, sondern auch für Menschen, die einen Kinderwagen schieben, schwere Dinge transportieren oder Gehhilfen benutzen.

Die Lebensqualität in Städten steigt, wenn Stadtentwicklung aus diversen Perspektiven gestaltet wird. Denn je mehr unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigt werden, desto zugänglicher und sozial-nachhaltiger wird die Stadt. Zudem besteht das Potential, durch neue Perspektiven kreative und innovative Lösungen für bestehende Problemstellungen zu finden. Es ist also essentiell, in den Prozess der Stadtentwicklung eine Diversität an Menschen mit einzubeziehen. Nur so kann ein zukunftsfähiges Zusammenleben entstehen.

Mit Menschen gestalten

Ein weiterer Grundsatz von Barrieresensibilität ist das Gestalten MIT statt für Menschen. Denn oftmals führen Vorurteile oder ein fehlendes Verständnis dazu, dass vermeintlich barrierearme Lösungen das eigentliche Problem nicht lösen. Es ist wichtig, Menschen mit gelebter Erfahrung zu Barrieren von Projektbeginn an einzubeziehen und von ihnen zu lernen.

Es gibt viele Organisationen, Initiativen und Selbstvertretungen, die Projekte in Bezug auf Diversitätsentwicklung und Barrieresensibilität begleiten. Sie nehmen eine beratende Rolle ein, schulen Mitarbeitende oder geben Feedback zu (Bau-)Vorhaben. Dabei ist ihr Wissen immer als Expertise anzuerkennen und dementsprechend zu entlohnen.

Barrieresensibilität erfordert zudem die Reflektion interner Strukturen und Prozesse in der eigenen Institution. Dafür ist eine externe Prozessbegleitung sinnvoll, die hinsichtlich Inklusions- und Diversitätsentwicklung berät und moderiert. Gleichzeitig schreibt Barrieresensibilität jedem und jeder Einzelnen die Verantwortung zu, sich selbst weiterzubilden.

Barrieresensibilität in der Praxis

Barrieresensibilität hat viele Facetten. Die folgenden drei Praxisbeispiele zeigen, wie Stadtentwicklung gemeinsam mit Selbstvertretungen betroffener Menschen barrieresensibel gestaltet werden kann:

• Sprachliche Barrieren schließen viele Menschen aus. Sprechen Menschen kein oder wenig deutsch, werden sie selten als Gegenüber auf Augenhöhe wahrgenommen. Ein Quartiersmanagement, das barrieresensibel agiert, veröffentlicht Informationen mehrsprachig und achtet darauf, dass seine Mitarbeitenden die im Quartier vertretenen Sprachen sprechen. So fordert es die Beratungs- und Kontaktstelle Mina - Leben in Vielfalt e.V. (www.mina-berlin.eu), die sich für inklusive Nachbarschaftsarbeit einsetzt und Menschen mit Migrationserfahrung und Behinderung berät.

• Um die Ideen und Bedürfnisse vieler Menschen sichtbar zu machen, müssen Beteiligungsverfahren barrierearm gestaltet sein. Dafür ist es notwendig, räumliche Barrieren zu beseitigen, Gebärdensprachdolmetschung, Kommunikationsassistenzen und eine diskriminierungssensible Moderation bereitzustellen und Formate zu unterschiedlichen Uhrzeiten mit optionaler Kinderbetreuung anzubieten. Konzepte und Forderungen für eine inklusive politische Teilhabe, die Menschen mit Behinderung gleichwertig in die Gestaltung aller Lebensbereiche einbeziehen, erarbeitet das Berliner Behindertenparlament (www.behindertenparlament.berlin).

• Wie Menschen mit Behinderung ihre Expertise einsetzen, um Ortsbetreibende in Sachen Barrieresensibilität zu beraten, zeigen die Barriere-Scouts des Sozialhelden e.V. (www.sozialhelden.de). Über ihr eigenes Erfahrungswissen hinaus werden die Barriere-Scouts professionell geschult, um sogenannte Ortsbegehungen zu machen und ein Gebäude auf vorhandene Barrieren zu prüfen. Relevant für Planende: Wie die Begleitung von Quartiersplanung durch eine Inklusionsfachinitiative, wie dem Sozialhelden e.V. aussehen kann, lässt sich gerade an der Neugestaltung der Siemensstadt Square in Berlin beobachten.

Barrieresensibilität als Prozess

Barrieresensibilität ist ein Prozess - sowohl in Bezug auf die persönliche Entwicklung als auch auf Institutionen. Dabei ist Perfektion nicht die Prämisse, denn eine vollständige Abwesenheit von Barrieren gibt es nicht. Vielmehr geht es um stetiges Lernen, Bewusstsein schaffen und den aktiven Austausch mit Betroffenen.

So ist auch dieser Text basierend auf Gesprächen mit vielen Menschen, Initiativen und Organisationen entstanden. Weiterführendes zum Thema findet sich im Heft “MACHT STADT SOLIDARISCH - Denkanstöße für eine solidarische Urbane Praxis” (www.urbane-liga.de/news/solidarisch). Neben Texten zu Privilegien und Diskriminierung in der Stadt beinhaltet das Heft ein Glossar, in dem schwierige Wörter erklärt werden, eine Liste mit Texten zum Weiterlesen und Werkzeuge für erste Schritte in eine eigene solidarische Praxis. Das Heft ist im Rahmen der Urbanen Liga (www.urbane-liga.de) entstanden, einem Projekt des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB).

Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) setzt das Projekt Urbane Liga für das BMWSB um. Das Projekt wird unterstützt durch das Büro stadtstattstrand – Kreativer Umgang mit urbanem Raum.

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