Nachgefragt

Neue Narrative für Wohnen und Architektur

Mit der Wohngenossenschaft Uferwerk und dem Architekturbüro undjurekbrüggen treffen zwei Akteure aufeinander, die nicht auf Wandel warten, sondern selbst Veränderungen schaffen. Das Gemeinschaftshaus Luise 19E verkörpert ein Umdenken beim Bauen und Wohnen und erhielt dafür Gold beim Erich-Mendelsohn-Preis 2023 für Backstein-Architektur. Wir sprachen mit dem Genossenschaftler Mirko Kubein und dem Architekten Jurek Brüggen.

Genossenschaft und Architekturbüro verfolgen ähnliche Werte. Wie haben beide zusammengefunden?

Mirko Kubein: Die Werte Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und generationenübergreifendes Miteinander sind der Kern unserer Genossenschaft. Schon seit wir das Fabrikgelände zur Wohnanlage umgebaut haben, haben Recycling und selbst anpacken eine große Rolle gespielt. Mit dem Büro haben wir jemanden gefunden, bei dem das genauso ist. Unsere Wege hatten sich auch schon vorher gekreuzt.

Jurek Brüggen: Vor einigen Jahren wurde in Werder nach dem Absprung des Investors eine fast fertiggestellte Therme diskutiert: Abriss oder Vergrößerung. Ich bin eng mit Werder verbunden, da ich hier aufgewachsen bin, und habe mit einem Kollegen eine Alternative vorgeschlagen – eine Umnutzung als Quartierszentrum: Die Saunaräume werden zu Klassenräumen, das Spaßbecken zum Spielbereich für eine Kita. Die Bauruine hätte mit allen Treppenhäusern und sanitären Einrichtungen komplett umgenutzt werden können. Das ist im Grunde auch heute immer noch das, was Werder braucht. Der Entwurf fand bei einer Pressekonferenz in den Räumlichkeiten der Genossenschaft große Zustimmung, das Bürgerbegehren hatte genügend Unterschriften, aber aus dem Projekt ist leider nichts geworden.

Mirko Kubein: Eine Genossenschaftlerin und Mitglied dieser Bürgerinitiative hat undjurekbrüggen dann für den Architekturwettbewerb zum Bau unseres Gemeinschaftshauses ins Spiel gebracht. Der Ortsbezug spielte bei der Auswahl eine wichtige Rolle: Jurek Brüggen kommt aus der Region, er kennt viele Handwerker aus Werder noch vom Fußballspielen. Gleichzeitig war er draußen in der Welt und bringt frischen Wind mit.

Auch dieses erste große Bauprojekt war schon ein Umbau: Alte Industriearchitektur wurde in Wohnraum verwandelt. Worin liegt hier der Charme? Wo die Herausforderungen?

Mirko Kubein: Die historische Substanz ist total schön. Der Nachteil ist, dass die Substanz enorm durch Lacke und Öle belastet war und intensiv saniert werden musste. Vieles musste abgerissen werden und wir haben mit Neubauten ergänzt. Die Geschichte des Geländes spielt für uns eine große Rolle. Wir sind uns bewusst, dass wir als Zugezogene, die etwas bewegen wollen, wie in vielen Orten erstmal beargwöhnt werden. Wir haben direkt nach dem Kauf das Gespräch mit ehemaligen Mitarbeiter:innen gesucht und sie seitdem regelmäßig eingeladen. Das Gelände wurde 1897 als Öle- und Essenzenfabrik gebaut, später war es im Besitz des Schaltgerätewerks Werder. Bei unserem ersten Besuch 2013 waren die Hallen noch in Betrieb. In Werder gibt es viele, die etwas mit der Fabrik verbindet: Wir hören Geschichten von Menschen, die hier ihre Ausbildung gemacht haben, oder vom Großvater, der hier gearbeitet hat. An das Grundstück grenzte bis zum Abzug der sowjetischen Truppen ein Militärgelände, auch davon finden wir Spuren. In allen möglichen Erdschichten und im flachen Wasser stoßen wir auf historische Artefakte, sodass man immer wieder an die Geschichte erinnert wird.

Jurek Brüggen: Es ist wunderschön, dass auch im Außenbereich die Zeitschichten sichtbar geblieben sind: Es gibt Gemüsebeete, ein Beachvolleyballfeld – und dazwischen alte Plattenbeläge aus der Industrievergangenheit. Das war auch unser Ansatz bei der Garage: In der Weiternutzung wird graue Energie gespeichert, aber wir können so auch die Zeitschichten erhalten. Die Garagen wurden in mehreren Etappen gebaut, es gibt also nicht die eine ursprüngliche Bauzeit. Für mich ist auch keine der Zeitschichten einer anderen ästhetisch überlegen – ich möchte gerade die Veränderungen sichtbar lassen.

Wie kam es, dass der Bau des sozialen Zentrums zeitlich nachgelagert nach den Wohnbauten kam?

Mirko Kubein: Wir hatten von Anfang an ein Gemeinschaftshaus geplant. Priorisiert haben wir aber den Wohnungsbau. Es war eine sehr intensive Bauphase über viele Jahre, alle haben neben ihrer Erwerbstätigkeit mitgeholfen. Danach brauchten wir eine Pause – auch finanziell. Den Anstoß, das Projekt wieder aufzunehmen, hat die ältere Generation gegeben: Wenn wir ein Gemeinschaftshaus haben wollten, dann jetzt. Zu der Zeit sprach vieles gegen das Vorhaben: Es war gerade Corona-Krise, dann ging der Ukrainekrieg los. Aber dann haben wir gesagt: Gerade deswegen brauchen wir das Gemeinschaftszentrum, um resilient durch die Krisen zu gehen. Zwei der älteren Bewohner und ich haben dann das Projektteam gebildet.

Jurek Brüggen: Die Beteiligung in der Genossenschaft ist sehr gut strukturiert und organisiert. Obwohl hinter dem Projekt mehr als hundert Personen stehen, waren die drei Bauherrenvertreter für uns als Architekten die Ansprechpartner. Dann gab es noch eine größere Arbeitsgruppe und ein Plenum, vor dem wir in gewissen Abständen Präsentationen gehalten haben – über das in verschiedenen Varianten vorgestellte Farbkonzept wurde beispielsweise demokratisch abgestimmt. Andere Architekten hatten uns gewarnt, wir sollten aufpassen mit all den Abstimmungen. Wir hatten noch keine Erfahrungen mit Genossenschaften als Bauherren, haben uns aber auf den Gemeinschaftsgedanken eingelassen. Wir haben früh ein Modell gebaut, das zur Visualisierung ausgestellt war, und dazu eine Tafel, auf die alle Bewohner Wünsche fürs Nutzungskonzept aufschreiben konnten. Gerade die demokratischen und protokollierten Entscheidungen haben Vorteile: Wenn Entscheidungen einmal getroffen sind, dann werden sie in der Regel auch nicht mehr geändert.

Das Besondere am Projekt sind der Erhalt des schon zum Abriss verurteilten Gebäudes mit Re-Use der Backsteine und der große Anteil an Handwerkstätigkeit durch die Genossenschaft. Woher kamen beide Ideen?

Mirko Kubein: Der Vorschlag zum Erhalt kam von Jurek Brüggen. Er sagte: Abreißen entspricht nicht mehr dem Zeitgeist – und gleichzeitig ist so eine Kostenersparnis möglich. Sein Gestaltungskonzept für das Gemeinschaftshaus sah vor, etwas aus der Geschichte zu machen, z.B. Scheunentore zu Fensteröffnungen. Das fanden alle gut.

Jurek Brüggen: Praktisch hätte die Arbeiten auch ein Unternehmen machen können. Aber es waren immer wieder die Kosten ein Thema, gerade weil Asbest, PAK und Öl im Dach zusätzlichen Aufwand verursacht haben. Dinge, die auch von Fachfremden hätten erledigt werden können, hat die Genossenschaft selbst ehrenamtlich gemacht. Dafür gab es einen Zeitplan, der in Phasen für die Handwerker und Phasen für Eigenarbeit unterschieden hat. Das hat von uns viel Organisation und von der Genossenschaft viel Verbindlichkeit gefordert.

Mirko Kubein: Die kollaborative Arbeit waren wir ja gewohnt. Bis auf das belastete Dach, das mit dem Bagger abgetragen werden musste, haben wir z.B. alle Zwischenwände selbst zurückgebaut. Die Backsteine haben wir geputzt und sortiert. Die Innendämmung aus Hanf-Kalksteinen haben wir sogar direkt unter Anleitung der Fachfirma eingebracht. Das war auch für die Verbindung mit der Raumsubstanz sehr wichtig. Wenn man eine Wohnung selbst renoviert, wird sie zum eigenen Zuhause und man fühlt sich wohl.

Herr Brüggen, Sie sagen, Spuren der Geschichte, Natürlichkeit des Materials und Kooperation seien wichtiger als Makellosigkeit. Warum?

Jurek Brüggen: Wenn man dem Bestand Wertschätzung entgegenbringt, kann es nicht makellos sein und gleichzeitig wird der Makel zu einer Qualität. Wie Mirko Kubein andeutete: Beim Verständnis dafür hilft die Eigenarbeit. Durch die Arbeit mit dem Material gewinnt man ein Gefühl dafür, dass es gar nicht makellos geht und dass es gar nicht makellos sein muss. Makellosigkeit erreicht man nur durch Kaschieren von natürlich auftretenden Abweichungen. Makel zu akzeptieren, bedeutet also nicht niedrigere, sondern realere Ansprüche.

Mirko Kubein: Wir sagen: Im Unperfekten steckt mehr Leben. Es entspricht mehr den Leuten, die dort wohnen. Wir sind 160 Personen, davon 60 Kinder – da sieht nach kurzer Zeit sowieso nichts mehr nigelnagelneu aus.

In dem Projekt steckt der Gedanke des Urban Minings. Sie haben aus dem Abbruch ein Lager von Backsteinen, die immer noch genutzt werden.

Mirko Kubein: Das Lager gab es vorher schon: In der Nähe wurde ein gründerzeitliches Gebäude abgerissen, während der Corona-Zeit ist der Investor abgesprungen. Da konnte sich die Nachbarschaft an den Steinen bedienen, sodass dieses Gebäude jetzt nicht nur auf unserem Hof, sondern auf bei vielen Nachbarn weiterlebt. Das machen wir schon immer so: Aus alten Stahlträgern wurden Fahrradunterständer, aus demontierten Heizungsrohren Stangen für die Tomaten-Zucht und aus Baupaletten Möbel. Und wenn etwas kaputt ist, können wir das meiste selbst reparieren.Jurek Brüggen:

Das funktioniert, weil es so viel Bereitschaft in der Genossenschaft gibt. Es gibt eine Wertschätzung dafür. Und die gemeinschaftlichen Werkstätten schaffen auch die Möglichkeit. 

Wie wird das Gemeinschaftshaus mittlerweile angenommen?

Jurek Brüggen: Das hat mich als Architekt natürlich auch interessiert. Bei der Übergabe im Juni 2023 haben die Menschen berichtet, wie vielfältig sie die gemeinschaftlichen Räume nutzen wollen: zum Homeoffice, zum gemeinsamen Kaffeetrinken am Morgen, für Geburtstagsfeste und Versammlungen. Ich bin öfter vor Ort und habe das Gefühl, dass es nicht nur gut angenommen, sondern auch gut angeeignet wurde. Es ist individuell eingerichtet mit Sofas, Pflanzen und einer Küchenecke. Als ich zuletzt dort war, stand gerade ein großer Pappaufsteller im Gebäude, mit dem die Anschaffung eines Billardtisches diskutiert wurde. 

Mirko Kubein: Der Billardtisch steht mittlerweile! Im Vergleich zu manch anderen Themen war das eine einfache Diskussion. Der gesamte Prozess war nicht frei von Konflikten. Insbesondere die Kosten für dieses Extra an Lebensqualität waren umstritten. Als dann zwischenzeitig der KfW-Zuschuss über 30.000 EUR gestrichen wurde oder kurz vor Fertigstellung der Boden einen Wasserschaden hatte, lagen die Nerven blank. Aber das ist normal und gehört dazu. Jetzt ein Jahr später sind auch die Kritiker:innen dem Projekt wohlgesonnen. Das ist eine Erfahrung aus dem Projekt Genossenschaft allgemein: Bei solch existenziellen Fragen und wenn die Belastung hoch ist, streitet man – aber nach einer Weile verträgt man sich wieder. Für die zukünftige Nutzung haben wir uns ein Probejahr auferlegt, das bis September läuft. Dann machen wir in einem moderierten Workshop eine Auswertung und entscheiden, welche Regelungen und Kompromisse es braucht. Die einen finden es super, dass viel los ist, andere wollen eher Einschränkungen von zu vielen Partys. Die Bewohner:innen sind zwischen zwei und 85 Jahren alt –  es ist Aufgabe der Genossenschaft, einen Ausgleich für unterschiedliche Bedürfnisse zu schaffen.

Das Projekt Uferwerk zeigt, wie ein Umdenken beim Bauen und Wohnen möglich ist. Lassen sich die Ideen auf andere Projekte übertragen?

Jurek Brüggen: Wir machen Bauen im Bestand, oft denkmalgeschützt. Aktuell bauen wir zwei Plattenbauten in Stendal für eine Genossenschaft um. Plattenbauten haben im Gegensatz zu den Industriebauten aus Backstein gar keinen Charme – und trotzdem wollen wir sie erhalten. Die einzige Diskussion in der Genossenschaft ist, wie viel man später noch vom Plattenbau sehen darf. Uns ist wichtig, dass er sichtbar bleibt: Für mich liegt der Charme in den Kontrasten. Neben dem Erhalt der grauen Energie ist die größte Chance des Projekts, diesen Gebäuden eine neue Wertschätzung zu geben. Plattenbauten waren nicht immer so unbeliebt wie aktuell: Zur Zeit ihrer Erbauung boten sie oft den größten Komfort. Heute beginnen wir wieder mehr über serielles Bauen zu sprechen, in 20 Jahren denkt man vielleicht schon wieder anders über Plattenbauten. 

Mirko Kubein: Ich bin Fan der Genossenschaftsidee geworden, gemeinsam zu bauen und mit den Materialien zu arbeiten, die man vor Ort findet. Auch wegen der besonderen Verbindung, die man zu dem Ort aufbaut. Das hat ein riesiges Potenzial und wir hören von anderen Gruppen, dass sie vom Uferwerk inspiriert wurden. Deswegen hoffe ich, dass der Trend wächst. Viele reden sich ein, dass sie keine Zeit dafür haben, aber das, was am Ende dabei rauskommt, ist es wert. Mehr noch: Es ist unbezahlbar.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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