Die neue Gelassenheit

Der Deutsche Pavillon auf der 17. Architekturbiennale in Venedig. Ein Rückblick aus der Zukunft, zweiter und letzter Teil. Der erste Textbeitrag erschien im Dezember-Heft.

„How will we live together“: Diese simple und dennoch komplexe Frage war das Thema der Architekturbiennale. Unter dem Titel „2038 - The New Serenity“ erzählt der Deutsche Beitrag Filme und Geschichten einer unvollkommenen, aber radikal besseren Welt. Der Deutschen Pavillon selbst bleibt dabei leer, zumindest physisch.

„Private ownership: When was that?“

In den Videos erforschen Expert*innen zukünftige Gesellschaften, Organisationsformen und soziale Beziehungen und vor allem tun sie eins: Sie zeichnen ein positives Dasein im Jahr 2038, in dem die Weltengemeinschaft aktuelle Probleme überwunden hat. Die Katastrophen der 2020er-Jahre brachten Menschen, Institutionen, Staaten und Unternehmen kurz vor dem Scheitern zusammen. Das heißt etwa ein Ende des privaten Besitzes von Grund und Boden, ein Ende der Vormachtstellung großer Tech-Monopolisten, stattdessen: dezentrale Machtstrukturen, anpassungsfähige Systeme, Kreislauffähigkeit, Nachhaltigkeit, Postwachstumsstrategien, gesellschaftliche Teilhabe oder ein Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch. Letzteres illustriert die Landschaftsarchitektin Sandra Bartoli mit einer Vision der Koexistenz am Anhalter Bahnhof in Berlin. Einst Umschlagplatz und „Tor zur Welt“, nun zurückgeholter Lebensraum für Tiere und Pflanzen.

Im Intro-Film „Interrail 2038“ (Regie Leif Randt) beschreiben zwei junge Menschen im Jahr 2038 den Status quo in 2021. Ihre Erzählungen basieren auf Überlieferungen ihrer Eltern. Leichtfüßig wandeln sie durch die Giardini und den Deutschen Pavillon. Sie werden begleitet von zwei fliegenden, flauschigen AI’s (Künstlichen Intelligenzen). Dass wir unser Handeln primär auf ein rein anthropozentrisches Weltbild stützen, ist für die zwei jungen Menschen retrospektiv betrachtet eine absurde Vorstellung. Sie formulieren eine Kritik an unserem heutigen Dasein. Dies betreffe auch die Disziplin der Architektur, welche „das große Bild“ vor lauter Detailfragen nicht sehen würde.

Ein Verschmelzen von Virtuellem und Nicht-Virtuellem gelingt den Kurator*innenen durch den „Cloud Pavilion“. Mit einem Avatar bewegen die Besucher*innen sich durch eine digitale Version des Deutschen Pavillons und treffen dabei in Echtzeit auf weitere Avatare. Das Konzept setzt sich hinweg über die Parameter von Zeit und Raum. Der „Cloud Pavilion“ ist, wie alle anderen Videos auch, über das Internet von überall auf der Welt erreichbar. Ein Novum für die Biennale, ganz im Zeichen der Zeit.

Abseits der Giardini: Kluge Beiträge im Arsenal

An der Konzeption der Giardini hat sich auch seit der ersten Architekturbiennale 1975 wenig geändert. Die bekannten Länder stellen weiterhin in nationalen Pavillons aus. Diverser wird es, sobald man die Exponate in der ehemaligen Schiffswerft „Arsenal“ oder in den über die Stadt verteilten eigenständigen „Pavillions“ betritt. Die unterschiedlichsten Ansätze und die Großzahl beteiligter Disziplinen zeigen die hohe Komplexität heutiger Herausforderungen und die Notwendigkeit, diesen durch inter- und transdisziplinäre Ansätze zu begegnen.

Auch das Bauwesen dient nicht mehr allein dem Errichten eines funktionierenden Gebäudes. Das Gebäude befindet sich immer in einem lokalen und globalen Kontext. Planende haben also folgerichtig die gesellschaftliche Verantwortung dafür, welche Räume mit welchen Ressourcen produziert werden, durch wen und für wen. Der Theoretiker Suhail Malik formuliert dazu: „Architects don‘t build in space, they build in time (configurations). We should not only think about the practicalities of what will happen next, but about the consequences of our work and how it generate new results, feeding back into the system.“

Aufgrund der Vielzahl beeindruckender Exponate ist es kaum möglich, ein umfassendes Bild der Architekturbiennale zu zeichnen. Hierfür müsste man sich selbst auf dem Weg nach Venedig machen. Stattdessen scheint es interessanter, ein Projekt tiefer zu betrachten, welches sich mit der Produktion von Raum beschäftigt. Unter dem Titel „Your restroom is a battleground“ zeigen die Forschenden Cassani, Galan, Munuera und Team sieben Fallstudien, welche Badezimmerkontroversen auf der ganzen Welt darstellen.

Modelle stellen öffentliche Toiletten oder auch das private Badezimmer als Austragungsort für das Verhandeln von Macht dar und zeigen, dass Architekturen politische Räume sind. Gezeigt wird etwa eine öffentliche Toilette in einer US-amerikanischen High School: Der Transgender-Schüler Gavin Grimm reichte Klage gegen die diskriminierende Transgender-Politik der Schulbehörde ein, die ihn dazu zwang, eine isoliertes WC in einer nachgerüsteten Personaltoilette zu benutzen, anstatt die Gemeinschaftseinrichtung mit seinen männlichen Mitschülern zu teilen. Oder ein Nachbild aus der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince: Nach dem Erdbeben von 2010 gelangte durch die schlechte Abwasserentsorgung in einem Camp der Vereinten Nationen Rohabwasser in die örtlichen Gewässer und löste einen Choleraausbruch aus.

Positive Blicke in neue Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zeigen etwa das spanische Architekturkollektiv „lacol“ mit dem Hausprojekt „La Borda“ in Barcelona. In Holzbauweise entstand für eine Wohnungsbaugenossenschaft ein von ihren Nutzer*innen selbst organisiertes Quartier, das durch eine kollektive Struktur Zugang zu angemessenem, nicht spekulativem Wohnraum bietet.

Auch ein Berliner Projekt fand nicht nur seinen Weg in die Lagunenstadt, sondern wurde sogar mit der Auszeichnung des Goldenen Löwen prämiert. Ausgestellt ist das Projekt „Floating University Berlin“ des Berliner Kollektivs „Raumlabor“. In einem ehemaligen Regenrückhaltebecken nahe des Tempelhofer Feldes ist ein temporäres, innerstädtisches Labor für kollektives, erfahrungsorientiertes Lernen und transdisziplinären Austausch entstanden.

Zurück zum Deutschen Pavillon. Ob dieser bei der Biennale „leer“ blieb? Meine Antwort ist nein. Er ist voll von abstrakten Begriffen und konkreten Ideen. Er benennt Herausforderungen unbeschönigt und geht einen Schritt weiter: Er zeichnet eine positive Zukunft. Das macht zwar Mut, was bleibt ist jedoch die Frage: Wieviel Wandel ist möglich in nur 17 Jahren? Und was bedeutet das für die Radikalität und die Dringlichkeit unseres Handelns?

Autorin: Svenja Binz, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)

Parade von Ideen und Visionen

Der Deutsche Pavillon ist virtuell über www.2038.xyz zu sehen. Der „Cloud Pavilion“ kann über Google Arts & Culture betreten werden. Die 17. Architekturbiennale war bis zum 21. November 2021 in Venedig zu besichtigen. Begleitend zum Deutschen Pavillon erschien ein Katalog (Sorry Press) und eine Ausgabe des Berliner Straßenmagazins „Arts of the Working Class“.

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