Bauplanungsrecht; Bauordnungsrecht; Rücksichtnahmegebot
§ 15 BauNVO; Gaststättenrecht

Zur Frage der abschließenden Prüfung der für den Nachbarschutz notwendigen Regelungen, wenn sichergestellt ist, dass das Rücksichtnahmegebot in einem nachfolgenden fachaufsichtlichen Genehmigungsverfahren nochmals überprüft wird.
BVerwG , Beschl. vom 14.6.2011 - 4 B 3.11 -

Aus den Gründen:

Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde der Beigeladenen hat keinen Erfolg.

1. Als grundsätzlich klärungsbedürftig wirft die Beschwerde die Frage auf:

Müssen die für den Nachbarschutz notwendigen Regelungen auch dann einheitlich und abschließend in der Baugenehmigung getroffen werden, wenn sichergestellt ist, dass das Rücksichtnahmegebot in einem nachfolgenden fachaufsichtlichen Genehmigungsverfahren nochmals überprüft wird?
Mit dieser Rüge wendet sich die Beschwerde gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Sicherung von Nachbarrechten bei einem Vorhaben, dessen Immissionen die für die Nachbarschaft maßgebliche Zumutbarkeitsgrenze überschreiten würde, erfordere, dass Nutzungsmöglichkeiten des Vorhabens unter Umständen durch konkrete Regelungen beschränkt, maßgebliche Immissionsrichtwerte oder Beurteilungspegel als Grenzwerte bereits in der Baugenehmigung
festgelegt werden. In tatsächlicher Hinsicht hat das Berufungsgericht dazu festgestellt, es sei nicht zweifelhaft, dass die Immissionsrichtwerte zur Nachtzeit bei seltenen Ereignissen mit Bezug zum Vorhaben der Beigeladenen überschritten werden könnten; eine Überschreitung des Immissionsrichtwerts für Mischgebiete von 45 dB(A) nachts (Nr. 6.1 Satz 1 Buchst. c TA Lärm) sei nach der Prognoseberechnung des Umweltamts der Beklagten schon ohne die Berücksichtigung seltener Ereignisse anzunehmen. Die in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht von der Beklagten in die angefochtene Baugenehmigung eingefügte einschränkende Regelung Nr. 8.2 habe zur Folge, dass die Beigeladene bei größeren Veran¬staltungen, die als seltene Ereignisse bezeichnet würden, die Möglichkeit habe, die Außenbewirtschaftung ohne Beachtung der dem Nachbarschutz durch die Auflagen Nr. 5 bis 8.1 dienenden Beschränkungen erheblich auszuweiten.

Es bedarf nicht erst der Durchführung eines Revisionsverfahrens, um die aufgeworfene Frage   soweit sie revisionsgerichtlicher Klärung zugänglich ist zu beantworten. Soweit sie Bundesrecht betrifft, lässt sie sich auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung ohne Weiteres mit dem Berufungsgericht bejahen.
Wie in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt ist, regelt die (positive) bauaufsichtliche Genehmigung nach dem Bauordnungsrecht der Länder nicht nur, dass ein bestimmtes Bauvorhaben ausgeführt werden darf; neben diesem gestattenden Teil (Baufreigabe) hat die Baugenehmigung vielmehr die umfassende Feststellung der Vereinbarkeit des Bauvorhabens einschließlich der ihm zugedachten Nutzung mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften zum Inhalt, soweit sie für die baurechtliche Prüfung einschlägig sind (Urteil vom 17. Oktober 1989   BVerwG 1 C 18.87   BVerwGE 84, 11 <13 f.>). Des Weiteren ist geklärt, dass wenn die von einer Gaststätte typischerweise zu erwartenden Belästigungen nach der Art des Baugebiets im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO als zumutbar anzusehen sind, dies zugleich bedeutet, dass es sich dabei nicht um schädliche Umwelteinwirkungen oder sonstige erhebliche Nachteile, Gefahren oder Belästigungen im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 GastG handelt (Urteil vom 4. Oktober 1988   BVerwG 1 C 72.86   BVerwGE 80, 259 <262>). Soweit die Baugenehmigungsbehörde zuständig ist, entfaltet die feststellende Regelung der Baugenehmigung im gaststättenrechtlichen Erlaubnisverfahren Bindungswirkung (Urteil vom 17. Oktober 1989 a.a.O. S. 14).

Zur Frage, welche Behörde die insoweit maßgebliche Entscheidung zu treffen hat, hat das Bundesverwaltungsgericht den Grundsatz aufgestellt, dass diese

danach zu bestimmen ist, zu welchem in die originäre Zuständigkeit der beteiligten Behörden fallenden Regelungsgegenstand der stärkere Bezug besteht (Urteile vom 4. Juli 1986   BVerwG 4 C 31.84   BVerwGE 74, 315 <324>; vom 4. Oktober 1988 a.a.O. S. 262 und vom 27. März 1990   BVerwG 1 C 47.88 Buchholz 451.20 § 33i GewO Nr. 9). Danach gilt: Soweit die typischerweise mit der bestimmungsgemäßen Nutzung einer Gaststätte in einer konkreten baulichen Umgebung verbundenen Immissionen zu beurteilen sind, besteht der stärkere Bezug zur Zuständigkeit der Baurechtsbehörde; denn diese typischen Immissionen hängen von Größe, Beschaffenheit und Standort der baulichen Anlage ab, die Gegenstand der Baugenehmigung sind, und nicht vom jeweiligen Gastwirt, dem die Gaststättenerlaubnis wenn auch in Bezug auf bestimmte Räume   gerade für seine Person erteilt wird (Urteil vom 4. Oktober 1988 a.a.O. S. 262; vgl. auch Metzner, GastG, 6. Aufl. 2002, § 4 Rn. 358; ders. a.a.O. § 5 Rn. 45). Lärmbeeinträchtigungen, die bei so genannten seltenen Ereignissen auftreten, stellen ebenfalls typische mit der Nutzung in der konkreten baulichen Situation verbundene Immissionen dar. Dementsprechend muss bereits die angegriffene Baugenehmigung sicher stellen, dass durch die mit ihr zusätzlich zugelassene Nutzung keine Lärmimmissionen hervorgerufen werden, die nach dem Gebot der Rücksichtnahme unzumutbar wären; sie muss die mit Rücksicht auf schutzwürdige nachbarschaftliche Belange ggf. erforderlichen Beschränkungen selbst klar und im sachlich gebotenen Umfang regeln. Unabhängig davon, dass bei bestimmten Veranstaltungen, die als seltene Ereignisse einzustufen sind, eine gaststättenrechtliche oder sicherheitsrechtliche Genehmigung einzuholen ist, hat   wie das Berufungsgericht ausgeführt hat die Baugenehmigungsbehörde daher unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall einzuschätzen, in welcher Weise bei der Festsetzung der zulässigen Art und Zahl der seltenen Ereignisse den Belangen der Anwohner unter Berücksichtigung der gebotenen gegenseitigen Rücksichtnahme Rechnung getragen werden muss. Das schließt es nicht aus, dass Einzelheiten der Nutzungsausübung im Einzelfall dem gaststättenrechtlichen Verfahren vorbehalten
sein können (Beschlüsse vom 28. November 1991 BVerwG 1 B 152.91 Buchholz 451.41 § 4 GastG Nr. 18 und vom 20. Oktober 1988 BVerwG 4 B 195.88  BRS 48 Nr. 141). Darauf hebt der Senat auch ab in dem von der Beschwerde in Bezug genommenen Urteil vom 27. August 1998   BVerwG 4 C 5.98   (Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 190   juris Rn. 34), wenn er darauf hinweist, dass allein Beeinträchtigungen, die einen unmittelbaren Bezug zu einem Gaststättenbetrieb aufweisen, als Anknüpfungspunkt für gaststättenrechtliche Anordnungen in Betracht kommen. Einen über diese Grundsätze hinausgehenden Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde nicht auf.

2. Als Verfahrensrüge im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO macht die Beschwerde geltend, das Urteil stelle ein Überraschungsurteil dar, weil das Berufungsgericht die Frage der Teilbarkeit der angefochtenen Baugenehmigung nicht mit den Beteiligten erörtert, insbesondere keine entsprechende Nachfrage an die Beklagte gerichtet habe. Sie wendet sich damit gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, eine Teilaufhebung nur der Nebenbestimmung Nr. 8.2 komme nicht in Betracht, weil das zur Folge hätte, dass die gerichtliche Entscheidung zu einer Baugenehmigung führen würde, die dem Willen der Beklagten nicht entspräche (UA S. 13 Rn. 39). Auch diese Rüge führt nicht zur Zulassung der Revision. Die richterliche Hinweispflicht konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO) und zielt mit dieser Funktion
insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (Urteil vom 11. November 1970   BVerwG 6 C 49.68   BVerwGE 36, 264 <266 f.>). Das Berufungsgericht darf deshalb seine Entscheidung nicht auf Tatsachen oder Rechtsgründe stützen, die für einen erstinstanzlich erfolgreichen Beteiligten in Ansehung der Begründung des verwaltungsgerichtlichen Urteils überraschend sind (Beschluss vom 4. Juli 2007   BVerwG 7 B 18.07   juris Rn. 5). Die

Hinweispflicht bezieht sich auf die tragenden („wesentlichen“) Erwägungen des Gerichts. Ein Gericht ist aber grundsätzlich nicht verpflichtet, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinzuweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche
Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (stRspr; vgl. nur Beschlüsse vom 26. Juni 1998   BVerwG 4 B 19.98   BRS 60 Nr. 187 und vom 6. April 2004   BVerwG 4 B 2.04   insoweit nicht veröffentlicht in Buchholz 310 § 137 Abs. 2 VwGO Nr. 12   juris Rn. 25). Unzulässig sind nur Überraschungsentscheidungen, bei denen die Entscheidung auf neue Gesichtspunkte gestützt wird, ohne dass die Beteiligten damit rechnen konnten.

Es erscheint schon zweifelhaft, ob das Berufungsgericht als verpflichtet angesehen werden könnte, die beigeladene Bauherrin auf die Rechtsfolgen der Rechtswidrigkeit der von einer Nachbarin angefochtenen Baugenehmigung hinzuweisen und zu erörtern, ob unter Abweisung der Klage im Übrigen eine Teilaufhebung in Betracht käme. Dass das Berufungsgericht anders als das Verwaltungsgericht Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung hatte, dürfte sich der Beigeladenen im Rahmen des in der Sitzungsniederschrift dokumentierten Rechtsgesprächs ohne Weiteres erschlossen haben. Da sich die Klägerin nicht auf eine isolierte Anfechtung der nachträglich eingefügten Nr. 8.2 beschränkt hat und das Berufungsgericht der Klägerin gegenüber auch keine solche Beschränkung nahegelegt hat, musste die Beigeladene damit rechnen, dass das Gericht wie von der Klägerin beantragt   den rechtswidrigen Verwaltungsakt insgesamt aufheben werde. Unabhängig davon genügt es unter dem Blickwinkel des Beruhenserfordernisses nicht, lediglich darauf zu verweisen, dass auf entsprechenden Hinweis vorgetragen worden wäre, dass auch ein Bescheid ohne die Nebenbestimmung Nr. 8.2 dem Willen der Beklagten entsprochen hätte, was sich auch daran zeige, dass die Nebenbestimmung in dem ursprünglichen Ausgangsbescheid nicht enthalten gewesen sei. Die Beigeladene beachtet insofern nicht, dass bei der Beurteilung von Verfahrensfehlern vom materiell-rechtlichen Standpunkt des Gerichts auszugehen ist. Nach Auffassung des Berufungsgerichts müssen   wie dargelegt   auch im Hinblick auf so genannte seltene Ereignisse bereits in der Baugenehmigung Regelungen im Hinblick auf Lärmbeeinträchtigungen enthalten sein. Der Umstand, dass die Nebenbestimmung Nr. 8.2 nachträglich eingefügt worden war, beruhte dagegen auf der vom Berufungsgericht verworfenen Auffassung, es genüge, für solche Ereignisse gaststättenrechtliche oder sicherheitsrechtliche Genehmigungen einzuholen. Der Ausgangsbescheid enthielt also nur deswegen keine Einschränkung, weil die Beklagte der   auch vom Verwaltungsgericht vertretenen   Auffassung war, Ereignisse im Sinne der Nr. 7.2 TA Lärm seien nicht Regelungsgegenstand der Baugenehmigung. Vor diesem Hintergrund hätte es der substantiierten Darlegung bedurft, dass die Beklagte
einen Betrieb genehmigen wollte, bei dem die Nebenbestimmungen Nr. 5 bis 8.1   insbesondere die Beschränkung des Betriebs nur tagsüber bis 22.00 Uhr sowie das Verbot von Musikdarbietungen jeglicher Art   uneingeschränkt auch im Fall so genannter seltener Ereignisse gelten sollten. Dass die Beklagte bei Erlass des Bescheids einen solchen Regelungswillen hatte, zeigt die Beschwerde nicht auf.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.


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