Revitalisierung von Großsiedlungen

Ökonomie mit sozialen und ökologischen Faktoren

Großsiedlungen der 70er Jahre sind eine besondere städtebauliche Herausforderung. Ein Modellprojekt in Frankfurt am Main belegt, dass eine nachhaltige Sanierung eine echte Verbesserung der Lebenssituation der Mieter bedeutet. Durch den Einsatz von innovativen Methoden und Produkten sollen vor allem kostengünstige Maßnahmen im Vordergrund stehen.

Für den Wohnungsbau der 1970er Jahre in Westdeutschland gilt heute der Großsiedlungsbau an damaligen Stadträndern als typisch. Basierend auf der Idee einer Rationalisierung wurden Stahlbeton-Bausysteme in großer Stückzahl vorgefertigt. So konnten in sehr kurzer Zeit große Siedlungen erstellt werden. Der Siedlungsbau war vollständig in ein umfangreiches Stadtplanungskonzept integriert, bei dem durch Infrastruktur, soziale Einrichtungen, Grünanlagen und Begegnungsflächen neue Formen des urbanen Lebens entstehen sollten.
Heute sind diese Großsiedlungen oft als soziale Brennpunkte stigmatisiert. Die Gründe sind sowohl baulicher als auch sozialpolitischer Natur. Sie reichen von der Konzeption der Siedlung über bauphysikalische Mängel bis hin zu einer veränderten Mie­terstruktur: Diese hat sich häufig weg von besser gestellten Mietern hin zu Bewohnern mit geringen Ar­­beitsmarkt-Qualifikationen und/oder Migrationshintergrund ent­­wickelt. So werden eigentlich vorhandene Standortvorteile, wie etwa die grüne Lage am Stadtrand mit rascher Anbindung an die Innenstadt, von ungepflegten Anlagen oder überdurchschnittlich häufigen Kriminalitätsdelikten überschattet.
Die Weiterentwicklung der ehemaligen Aushängeschilder städtischer Wohnungsbaupolitik ist eine komplexe Aufgabe. Gleichzeitig können sich urbane Regionen nur durch Bestandsqualifika-tion weiterentwickeln und verbesserten Ressourcenschutz voranbringen.

Neue Wege in Frankfurt am Main
Zu Beginn ihrer dritten Amtszeit als Oberbürgermeisterin initiierte Dr. h.c. Petra Roth ein langfristiges Konzept für die Entwicklung der Metropole Frankfurt bis 2030. Unter Federführung der Albert Speer & Partner GmbH wurden in der Studie „Frankfurt für alle“ Anregungen für die Region erarbeitet, gemeinsam mit 130 Experten aus Politik, Wirtschaft und Kultur.
Ein Kernthema, der nachhaltige Städtebau, mün­dete konkret in der Anregung, die Heinrich-Lübke-Siedlung in Frankfurt Praunheim zu einem nachhaltigen Modellquartier zu entwickeln, unter „sozialen, gestalterisch-technischen, wirtschaftlichen und ökologischen“ Aspekten.

Kompetentes Gremium
Die städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG Frankfurt Holding als Inhaberin der Heinrich-Lübke-Siedlung  entwickelte den Impuls dahin­gehend weiter, ableitbare Ergebnisse für ver­­gleichbare Immo­bi­lien zu gewinnen. Zu­­sätzlich zum städtebaulichen Wettbewerb, an dem vier Architekturbüros beteiligt sind, werden die verschiedenen Aspekte der Nachhaltigkeit von einem Experten-Team untersucht. Das Fraunhofer-Institut für Bauphysik (IBP) begleitet das Projekt wissenschaftlich, um übertragbare Erkenntnisse für den deutschen und internationalen Baubestand zu erhalten. Der Dritte im Bunde ist die CalCon Deutschland AG als Anbieter in der technischen Analyse und Optimierung von Bestandsimmobilien und Hersteller der Software epiqr®. Die Software epiqr® entstand aus einem europäischen Forschungsprojekt zur nachhaltigen Bewertung von Immobilien und ist bei der ABG Frankfurt Holding bereits seit 2005 für den gesamten Gebäudebestand erfolgreich im Einsatz. Das konkrete Ziel des Gremiums: Den Zustand und das Lebensumfeld der Siedlung verbessern und die Heinrich-Lübke-Siedlung als Modellstadtteil zu etablieren, wobei die Ausgewogenheit der Bereiche Ökonomie, Ökologie und Soziales gewährleistet sein soll.

Ein Kind der Zeit

Die Heinrich-Lübke-Siedlung wurde zwischen 1977 und 1982 erbaut, heute leben in 600 Wohnungen etwa 2000 Mieter. Im Nord-Westen der Stadt gelegen, ist die Verbindung zur etwa 8 km entfernten Innenstadt durch eine direkte U-Bahn-Anbindung gegeben. Die nähere Um­­­­gebung hat einen großen Anteil städtischer Grünflächen. Die 6 bis 9-geschossigen Gebäude gruppieren sich kreisförmig um großzügige Außen­­anlagen. Beim Bau kamen die typischen Baustoffe der Zeit zum Einsatz, Fertigbauteile mit Fassaden aus grobem Waschbeton sowie Bitumenbahnen bei der Flachdachdeckung.
Alle Wohnungen haben Sozialbindung, ein großer Anteil der Bewohner bezieht Transferleistungen. Viele Mieter haben einen Migrationshintergrund. In der Kombination entsteht trotz einer grundsätzlichen Identifikation mit dem eigenen Wohnumfeld ein erhöhtes Konfliktpotenzial.
Ein nachhaltiges Modernisierungskonzept entsteht
Für die Nachhaltigkeitsanalyse wurde eine Vorgehensweise in mehreren Phasen gewählt. Zunächst erarbeiteten CalCon und das IBP eine Kombination aus Kriterien des Deutschen Gütesiegels für Nachhaltiges Bauen sowie mehrerer internationaler Bewertungssysteme (darunter LEED, BREEAM, Green Star) für eine vereinfachte Bewertung. Auf diese Voranalyse folgen die vertiefende Analyse von Einzelaspekten und die detaillierte Maßnahmenplanung. Die Durchführung wird ebenfalls begleitet und nach Abschluss der Baumaßnahmen  erfolgt eine Prüfung und Abnahme durch das Fraunhofer IBP.
Zunächst wurden zwei Objekte und darin je eine exemplarische Wohnungen aufgenommen und untersucht. Auf Basis der erhobenen Daten erstellte das Fraunhofer IBP eine bauphysikalische Grobdiagnose, welche zusammen mit der Bewertung der Kriterien der Zertifizierungssys-teme in ersten Verbesserungsvorschlägen mündete. Diese möglichen Verbesserungsvorschläge wurde in epiqr® in eine Planung umgesetzt. Dort konnte ein erster Kostenvergleich einer nachhaltigen gegenüber einer konventionellen energetischen Modernisierung angestellt werden.

Ergebnisse der Voranalyse

Die Ergebnisse im bauphysikalischen Bereich zeigen, dass die Bausubstanz grundsätzlich in gutem Zustand ist. Größter Schwachpunkt ist die energetische Qualität der Gebäudehülle. Dies hat sowohl Konsequenzen für den Feuchte- und Wärmeschutz als auch für den thermischen Komfort. Weitere Problemfelder sind Wärmebrücken im Bereich der Balkone sowie Fensterbereiche, So-ckel und Kellerwände. In den Bereichen akustischer und visueller Komfort ist der Handlungs­bedarf erst durch detaillierte Messungen abzuschätzen, derzeit wird nicht von umfangreichen Nach­­rüstmaßnahmen ausge­gangen.
Bei der ökologischen Betrachtung lassen sich Umweltwirkungen wesentlich durch Dämmung und Berücksichtigung ökologischer Baustoffe bei der Sanierung vermindern. Die Analyse der soziokulturellen Faktoren machte deutlich, dass eine bauliche Verbesserung allein hier als Maßnahme nicht ausreichend ist. Vielmehr ist eine konkrete Konzeption erforderlich, wie die Identifikation der Mieter mit ihrem Wohnumfeld gestärkt und das Nutzerverhalten positiv beeinflusst werden kann.  
Für die ökonomische Betrachtung wurde zu­­nächst eine Kostenanalyse durchgeführt und der Instandhaltungsbedarf mit epiqr® ermittelt. Mit einer Eingriffstiefe  von  0,23  liegen die Gebäude in einem normalen Bereich für nicht modernisierte Gebäude dieses Baujahres. Die Analyse der Betriebskosten zeigte speziell im Bereich der Müllentsorgung und der Aufzugswartung überdurchschnittliche Werte. Verbesserungen sind hier ebenfalls im Wesentlichen durch die Einflussnahme auf das Nutzerverhalten möglich.

Wie geht's weiter?
Der Szenarienvergleich in der Planung zeigte, dass wie vermutet zwar ein großer Kostensprung zwischen einer reinen Instandsetzung und einer energetischen Modernisierung be­­steht, der Schritt von der konventionellen energetischen Modernisierung zur nachhaltigen Modernisierung jedoch sehr gering ist.
Auch die Fragestellung, inwieweit eine Komplettmodernisierung gegenüber Abbruch und Neubau aus ökologischer und ökonomischer Sicht für einige Ge­­bäude zu beurteilen ist, wird derzeit in Phase 2 untersucht. CalCon führt hierzu eine Lebenszyklus­kosten- und Wirtschaftlichkeitsbetrachtung sowie eine Ökobilanzierung durch. Eine detaillierte energetische Konzeption für das gesamte Siedlungsgebiet erstellt das Fraunhofer IBP gemeinsam mit der ABG Frankfurt Holding. Auch die Nutzung neuer Kosten senkender Verfahren, die das Fraunhofer IBP speziell für Bestandsgebäude entwickelt hat und derzeit erprobt, soll in die Fassadenkonzeption einfließen. Für den Bereich der soziokulturellen Faktoren wurde das Fachgremium nun um Prof. Dr. Jens Dangschat von der Technischen Universität in Wien erweitert, der dort den Lehrstuhl für Soziologie an der Architekturfakultät inne hat. Er begleitet das Projekt in der Umsetzung einer Vernetzung des Architekturkonzepts mit partizipativen Verfahren zur Beteiligung der Bewohnerschaft.

Nachhaltigkeit ist machbar, Herr Nachbar!
Im Ergebnis ist jetzt schon die belastbare Aussage möglich, dass ein Großteil der Kosten bei der Sanierung der gesamten Siedlung im Bereich der energetischen Modernisierung liegt. Die Kostensteigerung von konventioneller zu nachhaltiger Modernisierung liegt hier voraussichtlich lediglich bei etwa 15%.
Die Heinrich-Lübke-Siedlung kann mit geringem Mehraufwand nicht nur energetisch, sondern ganzheitlich verbessert werden. Viele besonders wichtige Aspekte, vor allem aus dem soziokul­turellen Bereich können berücksichtigt werden ohne dass damit un­­mittelbar Kosten verbunden sind.
Es ist wirtschaftlich sinnvoll, die Aspekte der Nachhaltigkeit grund­­sätzlich bei der Bestandssanierung zu berücksichtigen. Die moderate Kostensteigerung verspricht wesentliche Verbesserungen bei der Mieterzufriedenheit und steht im direkten Zusammenhang mit einem längeren Lebenszyklus der Anlage. Statt des reinen Erhalts der Bausubstanz wird eine grundlegende Veränderung für die Siedlung erreicht, die sich auf das urbane Zusammenleben positiv auswirkt.
In der Heinrich-Lübke-Siedlung entsteht kein „Leuchtturmprojekt“, im Gegenteil: Es entsteht ein allgemeingültiges und übertragbares Musterprojekt mit verwertbaren Ergebnissen für Großsiedlungen in Ballungsgebieten. Bereits die Voranalyse der Heinrich-Lübke-Siedlung belegt, dass nachhaltige Modernisierungen ein sozialpolitisches Instrument erster Güte sind, die den Kostenvergleich nicht scheuen müssen.

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