Menschenleere Landstriche

Wüstung – unbequem, aber auch unabwendbar

Der demografische Trend in Deutschland ist klar: Wir werden weniger. Und zwar deutlich. Sicherlich erfreuen wir uns gegenwärtig etwas mehr Zuwanderung als noch vor einem Jahr. Die Eurokrise treibt Spanier und Griechen zu uns, die Arbeitnehmerfreizügigkeit zieht bereits seit vergangenem Jahr viele Bürger anderer (osteuropäischer) Staaten an. Allerdings wird der Zuzug aus dem Ausland den Schrumpfungsprozess allenfalls vermindern, nicht aber aufhalten. Das ist keine vage Vermutung, sondern eine Aussage des Statistischen Bundesamts.[1]

Dabei sind die demografischen Entwicklungen räumlich sehr unterschiedlich ausgeprägt. Während München beispielsweise bis 2030 ein Bevölkerungsplus von rund 10 % erwartet, wird die Bevölkerungszahl in vielen ländlichen Regionen (im Osten, aber auch im Westen) um mehr als ein Fünftel zurückgehen.[2] Die unbequeme, aber unabwendbare Wahrheit ist: Viele kleinere Kommunen werden nicht nur schrumpfen, sie werden längerfristig betrachtet schlicht und ergreifend komplett von der Landkarte verschwinden.

Orte und Ortsteile gezielt aufgeben

Wieder andere werden zwar nicht komplett verschwinden, aber einzelne Stadt- oder Ortsteile aufgeben müssen, wenn sie insgesamt lebensfähig bleiben wollen. Das planvolle, gezielte und vor allem rechtzeitige Aufgeben von Orten oder Ortsteilen – auch Wüstung genannt – wird bei konsequenter Analyse der Auswirkungen des demografischen Wandels eine der zentralen Herausforderungen der Zukunft sein. In Deutschland wird die aktive Wüstung von Kommunen zwar von Städtebau- und Demografie-Experten mittlerweile immer häufiger diskutiert – politisch ist das Thema aber noch weitgehend tabu. Häufig wird an kleinteiligen Wachstumsstrategien festgehalten. Noch immer werden – teilweise auch mit Fördermittelunterstützung – neue Baugebiete in Kommunen ausgewiesen und beworben, die aus demografischer Sicht längst kein neues Bauland mehr brauchen. Dabei geht es ausdrücklich nicht um eine Behinderung von bedarfsgerechten Angeboten, nur sollten diese auf innerstädtischen Brachen anstelle auf neu in Randlage auszuweisenden Arealen mit dementsprechendem Flächenverbrauch realisiert werden. So können auch in Zeiten der Schrumpfung städtebauliche Qualitäten geschaffen werden. Statt die demografischen Probleme koordiniert und gemeindeübergreifend anzugehen, wird der Wettbewerb mit der Nachbargemeinde aber oft immer noch forciert – im Kampf um die knappe Ressource „Mensch“ sind sich Kommunen oft selbst am nächsten.

Zusammen statt gegeneinander

Dabei gilt gerade für Schrumpfungsregionen, dass eine abgestimmte interkommunale Zusammenarbeit zwingend erforderlich ist. Regionalen, kommunenübergreifenden Konzepten als Planungs- und Entscheidungsgrundlage muss politisch und praktisch ein deutlich höheres Gewicht zukommen – und im Sinne eines zwingenden Kriteriums beispielsweise für die Fördermittelgewährung dazu beitragen, die Entwicklung von Kommunen in Schrumpfungsregionen in die richtige Richtung zu lenken. Im Extremfall auch in Richtung Wüstung. Sie muss als Option in regionalen Konzepten grundsätzlich eine Rolle spielen dürfen. Trotz vielfältiger Versuche und Ansätze für eine Optimierung der interkommunalen Kooperation sind die gelungen Beispiele vergleichsweise selten – Kirchturmpolitik steht oft noch vor stadtregionaler Kooperation. Dabei bietet gerade der flächenhafte kontrollierte Rückbau ganzer Quartiere oder Ortsteile als Vorstufe der Wüstung auch Chancen für die Zukunft  – nämlich mehr Freiräume für neue Ideen und mehr Raum für andersartige Nutzungen.

Es mangelt an belastbaren Erkenntnissen

Noch ist die Wüstung jedoch oft keine Option. Neben den politischen Vorbehalten ist dies auch auf Wissenslücken zurückzuführen: Es gibt in weiten Teilen keine belastbaren Erkenntnisse darüber, ab welchem konkreten Punkt Wachstums- oder auch nur Erhaltungsstrategien keinen Sinn mehr ergeben und ab wann Schrumpfungsstrategien eingeleitet werden sollten. Wann soll ein Ort bewusst aufgegeben werden? Wenn er zu 50 % verlassen ist oder zu 80 %? Ab wann ist es nicht mehr sinnvoll, den Öffentlichen Personennahverkehr aufrecht zu erhalten? Wenn ein Bus zwischen zwei Dörfern nur noch jeden zweiten Tag überhaupt Fahrgäste aufnimmt? Ab welcher Durchflussgeschwindigkeit verkeimt eine Kanalisation derart, dass es nicht mehr zu vertreten ist – sprich: Ab wann müssen die Kanäle teuer und aufwändig zusätzlich gespült werden, damit sie funktionstüchtig bleiben? Wie viel müssen wir für den Erhalt unseres dichten Straßennetzes in peripheren Regionen zur Sicherung der Erreichbarkeit jeder Siedlung aufwenden und wie lange können und wollen wir uns diese Kosten volkswirtschaftlich noch leisten? Es mangelt an einer Sammlung geeigneter Indikatoren mit Schwellenwerten, die eine objektive Entscheidung pro oder contra Wüstung ermöglichen.

„Wüstungstool“ in Planung

Um dem zu begegnen, unterstützt die DSK Deutsche Stadt- und Grundstücksentwicklungsgesellschaft gegenwärtig ein Promotionsvorhaben an der Technischen Universität Berlin (TU Berlin). Das Vorhaben dient dazu, die Wissenslücken zu schließen und mögliche Faktoren herauszuarbeiten sowie Schwellen- und Grenzwerte vorzuschlagen, ab wann eine gezielte (Teil-)Wüstung aus städtebaulicher, volkswirtschaftlicher und kommunaler Sicht sinnvoll ist. Wichtig ist dabei, dass der wissenschaftlicher Forschungsanspruch und zugleich die praktische Anwendbarkeit des Kriterienkatalogs gewährleistet sind. Neben der Erarbeitung sinnvoller Kriterien und Kennzahlen soll auch der Folgeprozess beleuchtet werden: Wie lassen sich eventuelle verbleibende Bewohner sozialverträglich umsiedeln? Wie können die Bürger frühzeitig an aktiv gesteuerten Wüstungsprozessen beteiligt werden? Die DSK begleitet das Forschungsvorhaben an der TU Berlin auch mit dem Ziel, eine Art „Wüstungstool“ als Produkt zu entwickeln, um betroffenen Kommunen Hilfestellung in schwierigen Entscheidungssituationen bieten zu können. Dabei ist eines klar: Auch bei methodisch und technisch einwandfreier Analyse verbleibt immer ein emotionaler Aspekt, der sich der rein planerisch „vernünftigen“ Lösung entzieht: Heimat kann man nicht ersetzen.

Einsatz als Prognoseinstrument

Um so wichtiger erscheint zur Minimierung der individuellen und persönlichen Betroffenheit das weit vorausschauende Agieren zur Steuerung zukünftiger Siedlungsstrukturen – das „Wüstungstool“ soll als Prognoseinstrument eingesetzt werden: Welche Landstriche sollten wann bewusst aufgegeben werden, weil sie ohnehin aufgrund der demografischen Entwicklung auf lange Sicht entvölkert sein werden? Oder umgekehrt: Welche Landstriche können gestärkt aus der Entwicklung hervorgehen? Sind es die traditionellen naturräumlichen Gunsträume für Siedlungsstandorte in unserem Land, welche die Schrumpfung überstehen werden? Können wir die Siedlungsstruktur, die sich aus der historisch wohl bedeutendsten Wüstungsphase im hohen Mittelalter ergeben hat als sinnvolle Grundlage zukunftsgerichteter Stadt- und Regionalplanung verwenden? Damals hatten sich die Menschen nach dem Wüten der Pest auf ausgewählte Siedlungsstandorte zurückgezogen – vorrangig natürlich aus Gründen des nackten Lebenserhalts, also einer personenbezogenen Ökonomie, die es so heute dankenswerter Weise nicht mehr gibt. Allerdings prägten die dadurch entstandenen Siedlungsstrukturen in wesentlichen Grundzügen die folgenden Epochen bis zum Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Erst in der jüngeren Vergangenheit wurden die historisch begründeten Siedlungsstrukturen durch gezielte Industrieansiedlungen durchbrochen (zum Beispiel zu Zeiten der DDR, als große Betriebe „Bollwerke“ zum Westen darstellen sollten und gravierende städtebauliche Ergänzungswirkungen im Wohnungsbau zu Folge hatten – z.B. Suhl und Leinefelde). Heute schrumpfen diese Regionen wieder drastisch – künstlich induzierte Entwicklungen werden durch das tägliche Abstimmungsverhalten der Bürger in Form des Wegzuges korrigiert. Gebietet nicht gerade in Zeiten der Energie- und Klimawende ein nachhaltiges Planungsverständnis, über diese Ansätze der Neugestaltung und Weiterentwicklung unserer Siedlungsstrukturen auch einmal in der beschriebenen Weise „anders“ nachzudenken? Ein wissenschaftlich fundierter Katalog an Wüstungskriterien inklusive Schwellen- und Grenzwerten und die historische zusammenhängende berücksichtigende Raumanalyse kann so vielleicht zeigen, wo die potenziellen Wüstungsorte des 21. Jahrhunderts liegen.

Renaturierung als Lösung?

Ein weiteres Feld: Wie wird mit aufgegebenen Siedlungen umgegangen? Eine Möglichkeit liegt im vollständigen Rückbau oder zumindest Teilrückbau – und anschließender Renaturierung. Die Ökologie wäre demnach ein „Wüstungsgewinner“. Aber möglicherweise auch der (sanfte) Tourismus. In jedem Fall zählen die naturräumlichen Gegebenheiten zu den weichen Standortfaktoren einer Region. Die verbleibenden Kommunen profitieren demnach davon, wenn solche Orte, deren Schrumpfungsprozesse ohnehin nicht aufzuhalten sind, gezielt renaturiert werden. Wie so oft bei städtebaulichen Fragen unterscheiden sich die Antworten je nach Fall. Eine Pauschallösung kann es nicht geben.

Fazit

Aus dem drastischen absoluten Bevölkerungsverlust und der Seniorisierung (Überalterung) vieler Orte resultieren massive Folgeprobleme von der Perforierung der städtebaulichen Struktur bis hin zur Explosion der kommunalen Unterhaltskosten für den Erhalt der städtischen Infrastruktur. Mittelfristig wird es erforderlich sein, Orte oder zumindest Ortsteile bewusst aufzugeben – die aktive Wüstung wird eine Zukunftsaufgabe sein. Verbunden werden könnte damit die Forderung nach regionalen, interkommunalen Konzepten als zukünftige Planungs- und Entscheidungsgrundlage – im Sinne einer zwingenden Voraussetzung für die Fördermittelgewährung nicht nur für Wachstums-, sondern auch Schrumpfungsstrategien bis hin zur Komplettaufgabe von Orten. Noch wird die Diskussion teilweise sehr emotional geführt, zumal es an der erforderlichen wissenschaftlichen Grundlage mangelt. An der TU Berlin wird gegenwärtig dahingehend geforscht und ein Kriterienpool erarbeitet, mit dem das Thema Wüstung künftig sachorientierter diskutiert werden kann, als dies heute noch der Fall ist. Bei aller Notwendigkeit der technischen und planerischen Auseinandersetzung mit der Wüstungsthematik darf der emotionale Aspekt nie vernachlässigt werden: Wer die Aufgabe von Siedlungsstrukturen aktiv einfordert, wird massive individuelle Reaktionen der Betroffenen hervorrufen. Insofern kommt dem langfristigen, verträglichen Strategieaufbau bei einer gleichzeitig intensiven aktiven Bürgerbeteiligung hohe Bedeutung zu. Doch werden wir bei aller Ungeliebtheit des Themas perspektivisch die Wüstungsdiskussion führen müssen: Die Ökonomie wird uns dazu zwingen.

[1] Vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Gesellschaft­Staat/StaatGesellschaft.html, abgerufen 27.11. 2012[2] Vgl. http://www.bbsr.bund.de/cln_032/nn_340546/sid_C4653CE079230A7FBC20876C6565BA49/nsc_true/BBSR/DE/Home/Topthema/PM__ROP.html, abgerufen 27.11.2012

Die unbequeme, aber unabwendbare Wahrheit ist: Viele kleinere Kommunen werden nicht nur schrumpfen, sie werden längerfristig betrachtet schlicht und ergreifend komplett von der Landkarte verschwinden.

Im Mittelalter hatten sich die Menschen nach dem Wüten der Pest auf ausgewählte Siedlungsstandorte zurückgezogen – vorrangig natürlich aus Gründen des nackten Lebenserhalts.

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