Rechtsprechung

Bauplanungsrecht; unbeplanter Innenbereich; offene Bauweise; Doppelhaus;
Gebot der Rücksichtnahme.
BauGB § 34 Abs. 1
BauNVO § 22

Ist ein unbeplanter Innenbereich in offener Bauweise bebaut, weil dort nur Einzelhäuser, Doppelhäuser und Hausgruppen im Sinne von § 22 Abs. 2 BauNVO den maßgeblichen Rahmen bilden, so fügt sich ein grenzständiges Vorhaben im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB grundsätzlich nicht nach der Bauweise ein, das unter Beseitigung eines bestehenden Doppelhauses grenzständig errichtet wird, ohne mit dem verbleibenden Gebäudeteil ein Doppelhaus zu bilden. Ein solches Vorhaben verstößt gegenüber dem Eigentümer der bisher bestehenden Doppelhaushälfte grundsätzlich gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme.
BVerwG, Urteil vom 5.12.2013 – 4 C 5.12 –

Aus den Gründen:
I. Kläger und Beigeladener sind Eigentümer zweier benachbarter Grundstücke in K…. Diese sind mit einem Doppelwohnhaus mit jeweils zwei Geschossen und einem Dachgeschoss bebaut. Das Gebäude verfügt über ein Satteldach mit einer Firsthöhe von 11,60 m. Die Haushälften stehen mit vier bzw. sechs Metern wurde 1954, die des Klägers 1971 errichtet. Die übrige Bebauung der Straße besteht auf der einen Straßenseite – abgesehen von einem freistehenden zweigeschossigen Wohngebäude – aus zwei- oder mehrgeschossigen Häusern, Doppelhäusern oder Hausgruppen, auf der anderen Straßenseite herrscht eine zwei- bis dreigeschossige Bebauung mit Doppelhäusern oder Hausgruppen vor.
Außer einem Fluchtlinienplan fehlen bauplanerische Festsetzungen. Der Beigeladene beabsichtigt auf seinem Grundstück die Errichtung eines 15 m hohen viergeschossigen Wohn- und Geschäftshauses mit zusätzlichem Staffelgeschoss und Flachdach. Es soll anstelle der bestehenden Haushälfte ohne Einhaltung von Grenzabständen und unter Ausnutzung der Baufluchtlinie errichtet werden.
II. Das OVG hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht angenommen, dass sich das Vorhaben des Beigeladenen entgegen § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB nach der Bauweise nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt.
1.a) Das Vorhaben des Beigeladenen ist hinsichtlich seiner Bauweise planungsrechtlich an § 34 Abs. 1 BauGB zu messen, da es insoweit an bauplanerischen Festsetzungen fehlt und das Vorhaben innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteiles liegt. Maßstabsbildend im Sinne dieser Vorschrift ist die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (stRspr, Urteil vom 26. Mai 1978 – BVerwG 4 C 9.77 – BVerwGE 55, 369 <380> = Buchholz 406.11 § 34 BBauGB Nr. 63 S. 48).
b) In dieser Umgebung befindet sich nach den Feststellungen des OVGs eine Bebauung mit Doppelhäusern, Hausgruppen und wenigen Einzelhäusern, die das OVG als offene Bauweise bezeichnet. Mit diesen Bezeichnungen greift das OVG ohne Rechtsfehler auf Begriffe der Baunutzungsverordnung zurück. Denn deren Vorschriften könnenim unbeplanten Innenbereich als Auslegungshilfe herangezogen werden (Beschluss vom 27. Juli 2011 – BVerwG 4 B 4.11 – BRS 78 Nr. 102 Rn. 4; Urteile vom 23. März 1994 – BVerwG 4 C 18.92 – BVerwGE 95, 277 <278> = Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 168 S. 9 und vom 15. Dezember 1994 – BVerwG 4 C 19.93 – Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 173 S. 30). Sie enthalten definitorische Grundsätze, was etwa die Begriffe der offenen oder geschlossenen Bauweise meinen (Beschlüsse vom 7. Juli 1994 – BVerwG 4 B 131.94 – juris Rn. 3 und vom 11. März 1994 – BVerwG 4 B 53.94 – Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 166 S. 6). Aus diesem Grund konnte das OVG auch auf den Begriff des Doppelhauses der Baunutzungsverordnung zurückgreifen, als es die Eigenart der Umgebungsbebauung, die bestehende Bebauung auf den Grundstücken des Klägers und des Beigeladenen und das streitgegenständliche Vorhaben gewürdigt hat.
Im Sinne des § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist ein Doppelhaus eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Kein Doppelhaus bilden dagegen zwei Gebäude, die sich zwar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze noch berühren, aber als zwei selbständige Baukörper erscheinen. Ein Doppelhaus verlangt ferner, dass die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden (Urteil vom 24. Februar 2000 – BVerwG 4 C 12.98 – a.a.O. S. 357 ff. = Buchholz 406.12 § 22 BauNVO Nr. 7 S. 3 ff.; Beschluss vom 23. April 2013 – BVerwG 4 B 17.13 – BauR 2013, 1427 Rn. 5). Diese Begriffsbestimmung bezeichnet den Begriff des Doppelhauses im Sinne bauplanungsrechtlicher Vorschriften (Beschluss vom 10. April 2012 – BVerwG 4 B 42.11 – ZfBR 2012, 478, juris Rn. 9), also auch für den unbeplanten Innenbereich.

c) Damit prägen solche Gebäude die nähere Umgebung, die bei bauplanerischer Festsetzung einer offenen Bauweise zulässig sind (vgl. § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO). Dennoch bestimmt sich die Zulässigkeit des Vorhabens des Beigeladenen hinsichtlich der Bauweise nicht nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO. Die Vorschrift richtet sich an die planende Gemeinde (vgl. Urteil vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151 <154> = Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 118 S. 97). Anders als § 34 Abs. 2 BauGB für die Art der baulichen Nutzung verweist § 34 Abs. 1 BauGB hinsichtlich des Einfügens nach der Bauweise selbst dann nicht auf den Maßstab der Baunutzungsverordnung, wenn die nähere Umgebung der dort definierten offenen oder geschlossenen Bauweise entspricht. Den rechtlichen Maßstab bestimmt vielmehr § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, wonach sich das Vorhaben des Beigeladenen nach seiner Bauweise in die nähere Umgebung einfügen muss.
Nach Auffassung des OVGs beseitigt das Vorhaben des Beigeladenen das bestehende Doppelhaus, führt aber nicht zur Entstehung eines neuen Doppelhauses. Es stützt sich für diese Würdigung auf quantitative Abweichungen, die zwei zusätzlichen Vollgeschosse und ein Staffelgeschoss, die unterschiedliche Höhe der Gebäudehälften und die Erweiterung im viergeschossigen Bereich sowie die zusätzliche Erweiterung im zweigeschossigen Bereich. Hinzu träten qualitative Gesichtspunkte, insbesondere die unterschiedlichen Dachformen (Satteldach auf der einen, Flachdach auf der anderen Seite).
Diese Würdigung verstößt nicht gegen Bundesrecht. Zwar mahnt das Urteil vom 24. Februar 2000, den Begriff des Doppelhauses nicht bauordnungsrechtlich zu überladen. In dem städtebaulichen Regelungszusammenhang beurteilt sich die Frage, ob zwei an der gemeinsamen Grundstücksgrenze errichtete Gebäude noch ein Doppelhaus bilden, allein nach dem Merkmal des wechselseitigen Verzichts auf seitliche Grenzabstände, mit dem eine spezifisch bauplanerische Gestaltung des Orts- und Stadtbildes verfolgt wird (BVerwGE 110, 355 <361> = Buchholz 406.12 § 22 BauNVO Nr. 7 S. 6).


Bauplanungsrecht; Außenbereich; formelle und materielle Legalität
BauGB § 35 Abs. 2 und 4
Anforderungen an  die formelle bzw. materielle Legalität von Vorhaben im Außenbereich.
BVerwG, Beschl. v. 16.1.2014 – 4 B 32.13 –

1. Zulässigerweise errichtet ist ein Gebäude, wenn es in Übereinstimmung mit dem materiellen Bebauungsrecht errichtet oder wenn – trotz materieller Illegalität – eine Baugenehmigung erteilt worden ist (Urteil vom 8. Oktober 1998 – BVerwG 4 C 6.97 – BVerwGE 107, 265 <266> = Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 337 S. 118). Gegenstand planerischer Beurteilung ist jeweils die bauliche Anlage in ihrer Funktion (Urteil vom 11. November 1988 – BVerwG 4 C 50.87 – Buchholz 406.11 § 35 Nr. 252 S. 21 f.).
2. Wenn die Wohnnutzung eines Gebäudes im Widerspruch zum materiellen Baurecht gestanden habe, kommt es nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 8. Oktober 1998 a.a.O.) darauf an, ob trotz materieller Illegalität eine Baugenehmigung erteilt worden ist.
3. Dass ein Wohngebäude im Sinne des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 Buchst. a BauGB auch bei materieller Illegalität zulässigerweise errichtet worden ist, wenn es baurechtlich genehmigt ist, findet seine Begründung in dem feststellenden Teil der Baugenehmigung, der die verbindliche Feststellung umfasst, dass das genehmigte Vorhaben mit dem im Zeitpunkt ihrer Erteilung geltenden öffentlichen Recht übereinstimmte (Urteil vom 8. Juni 1979 – BVerwG 4 C 23.77 – BVerwGE 58, 124 <127>). Findet dagegen – wie hier für die Wohnnutzung – eine bauaufsichtliche Kontrolle der einschlägigen materiell-rechtlichen Vorschriften nicht statt, trägt der Bauherr in Bezug auf die materielle Rechtmäßigkeit seines Vorhabens selbst die Verantwortung. An welchen Vorschriften die Wohnnutzung zu messen gewesen wäre, spielt insoweit keine Rolle. Der Fall wirft auch nicht die Frage auf, ob die Lage unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes anders zu beurteilen wäre, wenn der Beigeladene oder ein Rechtsvorgänger vor der Nutzungsänderung ein Zeugnis über die Genehmigungs- und Anzeigenfreiheit beantragt und erhalten hätte (offen gelassen in Urteil vom 8 Oktober 1998 a.a.O. S. 269 = Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 337 S. 120).


Bauplanungsrecht; Gewerbegebiet; Bedürfnisse ortsansässiger Betriebe
BauNVO § 1 Abs4 bis 9, § 11

Die Planung konkreter einzelner Vorhaben mit den Differenzierungsmöglichkeiten des § 1 Abs. 4 bis 9 BauNVO ist nicht gestattet. Differenzierende Festsetzungen können sich stets nur auf bestimmte Arten der in den Baugebieten allgemein oder ausnahmsweise zulässigen baulichen oder sonstigen Anlagen beziehen (vgl. Urteil vom 22. Mai 1987 – BVerwG 4 C 77.84 – BVerwGE 77, 317 = Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 5 = juris Rn. 22; Beschluss vom 6. Mai 1993 – BVerwG 4 NB 32.92 – Buchholz 406.12 § 9 BauNVO Nr. 6 = juris Rn. 17 m.w.N.; ebenso Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Aug. 2013, § 1 BauNVO Rn. 103 m.w.N.).
BVerwG, Beschl. vom 30.1.2014 – 4 BN 46.13 –


Bauplanungsrecht; Außenbereich; Beseitigungsanordnung; Denkmal; maßgeblicher Zeitpunkt; Neuerrichtung; Entkernung.
BauGB § 29 Abs. 1, § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Alt. 4, Abs. 4 Satz 1 Nr. 4

Wird durch ungenehmigte bauliche Maßnahmen die Denkmaleigenschaft eines im Außenbereich belegenen Bauwerks zerstört, kann die Genehmigungsfähigkeit der durchgeführten Maßnahmen jedenfalls nicht mehr am öffentlichen Belang des Denkmalschutzes (§ 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Alt. 4 BauGB) scheitern.
BVerwG, Beschl. v. 12.12.2013 4 C 15.12

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